Es gibt einfach zuviel Leid und Elend auf der Welt!

Ich hatte die Frage schon früher erwartet, es ist natürlich einer der ganz großen Fragen zum Thema. Und es macht einen großen Unterschied, ob man diese Frage aus einer persönlichen Betroffenheit heraus stellt oder nicht. Wenn ja, ist eine schriftliche Antwort in Form von ein paar Argumenten immer unzureichend. Dann wäre ein Gespräch mit dem Christen seines Vertrauens weitaus besser. Eine Frage, die nicht nur theoretisch ist, kann man auch nicht rein theoretisch beantworten. Schon deswegen, aber auch weil das Thema so umfassend ist, kann ich also nur ein paar Denkhilfen geben. Viele Leute sagen ja oft:

Wenn Gott allmächtig ist, hätte er eine Welt ohne Leid erschaffen.

Aber dass Gott allmächtig ist, heißt nicht, dass er eine Welt erschaffen kann, in der Menschen freiwillig sich nur zum Guten entscheiden. Es ist logisch unmöglich, jemanden dazu zu bringen, etwas freiwillig zu tun. Weil Gott uns mit einem freien Willen geschaffen hat, kann er nicht garantieren, dass wir uns stets zum Guten entscheiden. Andere Leuten sagen wiederum:

Wenn Gott allliebend ist, hätte er eine Welt ohne Leiden erschaffen.

Aber ist es wirklich undenkbar, dass ein guter Gott Ungutes zulässt? Wir alle kennen ja Beispiele, in denen wir Leid aufgrund eines höheren Ziels zulassen, dass das Leid wieder rechtfertigt. Angenommen, Gott hat einen Grund dafür, ein spezifisches Übel zuzulassen. Hätten wir überhaupt eine Chance, plausible Erklärungen für diesen Grund zu finden? Angesichts der Tatsache, dass er allwissend ist, wir dagegen erkenntnismäßig erheblichen Begrenzungen unterworfen sind, sollte es uns dann nicht überraschen, dass wir seine Gründe nicht erkennen?

Außerdem glauben zumindest Christen nicht, dass Gott jemals versprochen hat, dass es wir leidlos leben würden – ganz im Gegenteil. Und Christen glauben ja auch nicht, dass der Hauptzweck unseres Lebens Glück ist, sondern die Erkenntnis Gottes. Viele denken: “Wenn Gott existiert, dann sollte es doch seine Absicht sein, dass wir glücklich sind.” Das stimmt ja auch irgendwie, aber: Wenn es Gott wirklich gibt, muss sein und unser Denken, was uns glücklich macht, gleich sein? Darüber hinaus ist, bei genauerer Betrachtung, viel mehr Leid „menschengemacht“, als man eigentlich denkt. Es ist nicht Gott, der den Abzug drückt. Es ist nicht Gott, der fremd geht. Es ist auch nicht Gott, der für den Hunger in Afrika verantwortlich ist. Und ist das Leid weg, wenn wir alle Terroristen, Kriegshetzer, Vergewaltiger & Mörder wegsperren? Nein, jeder Einzelne von uns müsste dann weggeschlossen werden.

Das ist die Auskunft der ersten Kapitel der Bibel: Gott hat Menschen mit der Freiheit geschaffen, sich ihm zuzuwenden oder sich von ihm abzuwenden. Gott will eine reale Beziehung zu einem freien Gegenüber; und zu dessen Freiheit gehört die Möglichkeit des Scheiterns logisch dazu. Und Scheitern heißt in diesem Fall: Abwendung von Gott, Misstrauen gegen Gott – und damit langfristig auch Misstrauen gegeneinander, Gebrochenheit, Feindseligkeit. Unsere Weltwirklichkeit ist voll von der Erfahrung solchen Scheiterns – und zwar des Scheiterns von uns Menschen. Jedes Bild vom Menschen, das realistisch sein will, muss genau das einkalkulieren: Dass der Mensch in sich gebrochen ist, dass er höchst unvollkommen und zu handfestem Versagen in der Lage ist. Wer das nicht einkalkuliert, läuft Gefahr, einen Teil unserer Alltagserfahrung einfach auszublenden.

Das also ist ein erster Ansatz einer Antwort: Die Freiheit des Menschen schließt die Möglichkeit des Scheiterns ein. Wenn Gott diese Möglichkeit ausgeschlossen hätte, hätte er uns nicht als freie Wesen geschaffen. Dass er uns aber als freies Gegenüber geschaffen hat, ist gerade Ausdruck seiner Liebe zu uns. Das ist eine wichtige Denkhilfe. Aber wie ich selbst einräumen muss: Es beantwortet selten die Frage des einzelnen Leidenden, wie er seinen Schmerz bewältigen soll. Denn schon das Beispiel von Hiob im Alten Testament zeigt, dass es in dieser gefallenen Welt eben keineswegs immer die “Richtigen” trifft (Buch Hiob, Kapitel 1-2). Wir Menschen leiden oft unter den Konsequenzen der freien Entscheidungen anderer. Zwei Grundannahmen des christlichen Glaubens können uns allerdings weiter helfen:

  • Der Gott, an den wir glauben, ist kein distanzierter Gott, weit weg und desinteressiert. Wir glauben, dass er in Jesus Mensch geworden ist. Und wir glauben, dass er in Jesus in seiner Liebe zu uns bis in den Tod gegangen, am Kreuz gestorben ist. Das heißt, wir glauben an einen gekreuzigten Gott, der mitten in unserem Leiden gegenwärtig ist. Gott kann auch unsere Klage und unser Unverständnis aushalten; denn im Grunde leidet er mit jedem Leidenden weitaus mehr mit als wir das könnten. Wir müssen Gott also nicht etwa darüber “informieren”, was Leiden bedeutet.
  • Es gibt in dieser Welt, aus unserer begrenzten Perspektive vielleicht keine hundertprozentig befriedigende Antwort auf das Problem. Aber es gibt in Gottes Welt eine vollkommene Lösung. Christen leben auf Gottes neuen Himmel und neue Erde zu, in der Gott alle Tränen abwischen wird, in der es keinen Tod, kein Leid, kein Geschrei und keinen Schmerz mehr geben wird; denn was vorher war, ist vergangen (Offenbarung, Kapitel 21, Vers 4). Diese Erwartung hilft, das Dunkel dieser Welt beim Namen zu nennen, es gerade nicht zu beschönigen und dennoch hoffnungsvoll zu leben.

Gerade der letzte Punkt mag ein wichtiger sein, wenn man sich die Alternativen im puncto „Weltsichten“ anschaut: Während Christen zwar keine Antwort, wohl aber eine Lösung benennen können, können die atheistischen oder agnostischen Zeitgenossen dem Leid der Welt nur hoffnungslos begegnen.

Es macht den christlichen Glauben zwar nicht automatisch wahr, „nur“ weil er eine hoffnungsvolle Lösung zum Leidproblem aufzeigen kann, aber wenn er stimmt, sind Verse wie Offenbarung 21,4 eben keine billige Vertröstung, sondern kommender Trost.

Ein letzter Denkanstoß: Wie kommt es eigentlich, dass uns Menschen die Frage nach dem Leid der Welt und der Gerechtigkeit und Liebe Gottes so umtreibt? Selbst solche Menschen, die erklärtermaßen gar nicht an Gott glauben? Unsere Unruhe im Blick auf das Leiden der Welt macht doch nur dann Sinn, wenn wir eine Alternative vor Augen haben – wenn wir ahnen, dass die Welt eben nicht so ist, wie sie sein sollte. Woher aber kommt diese Ahnung, wenn doch der Zustand der Welt nichts Neues sein dürfte? Mit C. S. Lewis gefragt:

Wundert sich ein Fisch darüber, dass es nass ist? Und wenn er es doch täte: Hieße das nicht vielleicht, dass er ursprünglich mal fürs Trockene geschaffen worden ist?