Ist man als Christ auf eine 6.000 Jahre alte Erde festgelegt?

Danke für diese Frage. Die Sorge ist ja nachvollziehbar: Wer Christ ist, hat sich von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verabschieden – gerade dann, wenn es um das Thema „Erdentwicklung“ geht. Das ist aber nicht zwangsläufig der Fall: Die Bibel ist zwar eindeutig darin, dass Gott diese Welt erschaffen hat und auf sie einwirkt. Vom Anfang bis zum Ende. Das heißt aber nicht, dass man seitens der Bibel darauf festgelegt ist, dass sich die Entwicklung der Erde in einer ganz bestimmten Weise zugetragen hat. Selbst dann nicht, wenn man den Schöpfungsbericht wörtlich nimmt.

Es ist ein beliebtes Missverständnis, dass die 6-Tage-Schöpfung und eine damit verbundene 6.000 Jahre alte Erde der christliche Standpunkt schlechthin ist. Er ist vielmehr einer von vielen. Zur Aufklärung und Veranschaulichung zeige ich Ihnen daher einen neutralen Überblick über die geläufigsten Standpunkte zur Erdentwicklung unter Christen weltweit:

Die Frage, die sich ganz am Anfang stellt, ist also die, wie der Schöpfungsbericht in Genesis 1 überhaupt verstanden werden will. Achtung also: Es geht dabei nicht darum, wie der jeweilige Leser ihn verstanden haben möchte – sondern, wie der Text selbst verstanden werden will. In welches Textgenre würde es der Autor zugeordnet wollen wissen? Es liegt auf der Hand: Wer ein Gedicht als etwas anderes liest als ein Gedicht, wird seinen Inhalt missverstehen. Dasselbe trifft natürlich auch auf den Schöpfungsbericht zu.

Es gibt nicht wenige Christen, die davon ausgehen, dass Genesis 1 gar nicht als naturwissenschaftliches Protokoll verstanden werden will. Diesem Standpunkt zufolge will der Schöpfungsbericht also gar keine Aussage über das Erdalter treffen und hat ganz andere Dinge im Blick. Matthias Clausen fasst diese Ansicht wie folgt zusammen:

Es erscheint mir weitaus plausibler, dass die biblischen Texte eine (in Themen und Sprachform) erkennbare Antwort auf außerbiblische Schöpfungserzählungen aus dem babylonischen Raum sein möchten (z.B. Enuma Elish). Im Vergleich erkennt man die biblische Aussageabsicht umso besser. So wird in den babylonischen Texten z.B. davon gesprochen, dass Götter miteinander kämpfen, dass die Entstehung der Welt und auch der Menschen eher ein Unfall ist, dass Menschen Sklaven der Götter sind usw. Legt man dann Gen. 1-2 daneben, erkennt man, worum es geht: Es gibt nur einen Gott, er ist nicht Teil der Schöpfung, sondern von ihr verschieden, die Welt ist von ihm in Ruhe und guter Ordnung erschaffen und auch der Mensch ist nicht Sklave, sondern Gesprächspartner Gottes, ja sein “Ebenbild”.

Eine theologisch-anthropologische Aussageabsicht Gottes ergibt meiner Meinung nach auch mehr Sinn, als die Ansicht, Gott wolle uns ein naturwissenschaftliches Protokoll der Erdentstehung und -entwicklung mit auf den Weg geben. Die Bibel ist zweifelsfrei zu großen Teilen ein geschichtswissenschaftliches Werk; warum sie aber auch naturwissenschaftliche Aussageabsichten haben sollte, ist mir wenig einsichtig. Diesem Verständnis des Schöpfungsberichtes zufolge habe ich als Christ folglich die Freiheit, alle mir vorliegenden Erklärungsansätze kritisch zu prüfen.

Robert S. White, Christ und Professor für Geophysik an der University of Cambridge, ergänzt:

Am fruchtbarsten ist es, die literarische Gattung der fraglichen Genesis-Abschnitte ernst zu nehmen. Da spezialisierte wissenschaftliche Aufsätze als Textgattung nicht vor Gründung der ersten wissenschaftlichen Zeitschriften im 17. Jahrhundert aufkamen, stellt es einen Anachronismus dar, den Genesis-Texten eine wissenschaftliche Bedeutung überzustülpen. Überhaupt legten bereits Augustinus, Origines und andere frühe Kirchenväter in den ersten Jahrhunderten nach Christus die Genesis symbolisch aus.

Viele Christen stimmen hier zu. Viele aber auch nicht: Ihrer Ansicht ist Genesis 1 sehr wohl als ein naturwissenschaftliches Protokoll zu sehen. Aber auch hieraus ergibt sich nicht zwangsläufig die Ansicht, dass wir es mit einer jungen Erde zu tun haben: Selbst eine wortwörtliche Auslegung des Schöpfungsberichtes lässt sowohl einen „Kurzzeit-Kreationismus“ als auch einen „Langzeit-Kreationismus“ zu. Jeder Christ ist sozusagen ein Kreationist: Entweder geht er im Sinne des Junge-Erde-Kreationismus von einer 6.000 oder im Sinne des Alte-Erde-Kreationismus von einer 4,6 Milliarden Jahre alten Erde aus. Wichtig dabei: Viele Vertreter beider Seiten berufen sich auf eine wortwörtliche Interpretation des biblischen Schöpfungsberichts. Der zentrale Unterschied liegt einzig und allein in einer – in allen Fällen – zulässigen Andersübersetzung bestimmter Wörter im hebräischen Urtext.

Im Gegensatz zu Junge-Erde-Christen argumentieren Vertreter des sog. „Lücken-Kreationismus“ mit der möglichen Übersetzung des hebräischen hajtah mit wurde statt war (wie es Junge-Erde-Kreationisten übersetzen würden). Die Übersetzung in Genesis 1 lautet dann: „Die Erde wurde (hajtah) wüst und leer (tohu wa bohu)“. Vor dem Hintergrund dieser möglichen Übersetzungen folgern sie, dass in der Schöpfungsgeschichte zwischen 1. Mose 1,1 und 1,2 eine zeitliche Lücke zu sehen ist. Daraus ergibt sich eine Form des Alte-Erde-Kreationismus.

Christen, die für eine alte Erde im Sinne des Progressiven Kreationismus eintreten, sagen hingegen, dass die sechs Tage des Schöpfungsberichts nicht 24-Stunden-Tage, sondern weitaus größere Zeiträume darstellen – Millionen von Jahren. Begründet wird dies damit, dass das hebräische Wort yôm mehrere zulässige Bedeutungen hat: nicht nur Tag, sondern z.B. auch Zeitalter. Letzterer Ausdruck ist dem Progressiven Kreationismus zufolge die plausiblere Lesart. Christen, die ein progressiv-kreationistisches Erdentwicklungsmodell vertreten, erkennen die allermeisten wissenschaftlichen Erkenntnisse an, wie z.B. das Universumsalter von 13,8 Milliarden und das Erdalter von 4,6 Milliarden Jahren.

Die Möglichkeit evolutionärer Großübergängen, die über Artgrenzen hinaus stattfinden, wird skeptisch begegnet. Veränderungen aufgrund Mutationen, Rekombinationen und Selektionsprozesse werden vollständig akzeptiert. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass die ersten Menschen (Adam und Eva) vor rund 200.000 Jahren lebten und – im christlichen Sinne – „gefallen” sind. Einer der größten Zusammenschlüsse von Christen, die diesen Standpunkt vertreten, ist die 1986 vom Astrophysiker Hugh Ross gegründete Organisation Reasons to Believe (www.reasons.org).

Last but not least gibt es natürlich auch etliche Christen, die mit dem Ansatz der sog. „Theistischen Evolution” sympathisieren. Dieser nimmt die vollständige Richtigkeit aktueller Ergebnisse biologischer, kosmologischer, physikalischer wie geologischer Forschung an. Die Auffassung, dass Evolutionstheorie und christlicher Glaube widerspruchsfrei miteinander vereinbar sind, wird u.a. von namenhaften Christen wie Ard Louis, Oxford-Professor für theoretische Physik, oder John Walton, Professor für Altes Testament am Wheaton College vertreten. Einer der bekanntesten Vereinigungen, die das theistisch-evolutionistische Erdentwicklungsmodell vertreten, ist die BioLogos Foundation (www.biologos.org), die vom US-amerikanischen Genetiker und Direktor der National Institutes of Health Francis S. Collins im Jahr 2007 begründet wurde.

Sie sehen: Das Thema der „Erdentwicklung“ ist komplexer, als einem vielleicht lieb ist. Der aufmerksame Beobachter erkennt nun aber schnell, dass sich die christlichen Verständnisse des Schöpfungsberichtes gegenseitig ausschließen: Entweder will Genesis 1 als Naturprotokoll verstanden werden oder nicht. Entweder ist die Zeitalter-Interpretation des Wortes yôm die richtige oder nicht – und so weiter.

Welchen Standpunkt sollte ein Christ nun haben? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bemühe mich durchaus, Licht ins Dunkel zu bringen. Das ist aber, wenn man es ernsthaft angeht, eine intensivere Auseinandersetzung! Da Christsein aber sowieso nicht von einem bestimmten Verständnis der Erdentwicklung abhängt, ist dieses Thema allenfalls spannend, nicht aber entscheidend. Gerade deshalb bin ich der Ansicht, dass ich mir den Luxus einer offenen Frage in meinem Weltbild durchaus erlauben kann.