Warum lässt Gott Leid zu?

Als Christ gebe ich auf die Frage, warum Gott Leid zulässt, natürlich eine vollkommen andere Antwort, als es Vertreter anderer Weltsichten tun. Ein Buddhist würde z.B. antworten, dass es so jemanden wie Gott gar nicht gibt. Buddha zufolge liege die Ursache des Übels darin, „dass die wirkliche Ursache der menschlichen Leiden unwissende Begierde (trshna) ist.“[1] Im Hinduismus wird die Ursache des Leides dagegen üblicherweise mit dem Begriff Karma und der damit verbundenen Lehre von der Wiedergeburt zusammengebracht. Der hinduistische Gelehrte Arvin Sharman fasst dies wie folgt zusammen:

Jede Handlung, ob oder schlecht oder gut, muss ihre Auswirkungen auf den Handelnden haben. Wenn ein Mensch in seinem gegenwärtigen Leben insgesamt gut ist, ist seine Existenz in dem Maße besser, in dem seine guten Handlungen die bösen überwogen. Er wird ein bedeutender und adliger Mensch, ein König oder vielleicht ein Gott (Götter sind wie Menschen dem Gesetz der Seelenwanderung unterworfen). Umgekehrt wird ein schlechter Mensch in einem niedrigen Rang wiedergeboren, oder als ein Tier. Besonders verderbte Menschen können auch in die Hölle kommen. All dies geschieht nicht auf das Geheißt einer allmächtigen und strengen gerechten Macht. Es ist ein Naturgesetz.[2]

Die muslimische Antwort kommt der christlichen zwar schon etwas näher, unterscheidet sich in vielen zentralen Punkten aber trotzdem grundlegend von ihr (u.a. hinsichtlich der Aspekte Prüfung, Strafe oder des unerforschlichen Willen Gottes). Die Frage „Warum lässt Gott Leid zu?“ erscheint mir vor diesem Hintergrund daher zu allgemein formuliert. Im Folgenden liegt also nicht nur das Kunststück vor mir, eine halbwegs hilfreiche Antwort auf die Leidfrage zu geben, sondern das Ganze auch noch aus christlicher Perspektive zu tun. Konkret heißt das, dass ich versuchen werde, Ihnen gleich zwei Fragen zu beantworten – die erste lautet: Ist es überhaupt möglich, dass es Leid gibt, wenn es Gott gibt? Das Problem ist: Selbst wenn sich diese Frage mit ja beantworten lässt, sind wir noch lange nicht über den Berg. C.S. Lewis trifft in seinem Buch Über die Trauer, das er nach dem Krebstod seiner Frau schrieb, den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt:

Nicht daß ich in der Gefahr schwebe, den Glauben an Gott preiszugeben – zumindest habe ich nicht diesen Eindruck. Die wirkliche Gefahr besteht darin, von Gott so entsetzliche Dinge zu glauben. Mir graut nicht vor der Schlußfolgerung: „Also gibt es eben doch keinen Gott“, sondern vor: „So also ist Gott in Wirklichkeit. Mache dir nichts vor.“[3]

Wir haben es also noch erschwerend mit einer Charakterfrage zu tun: Wenn es möglich sein sollte, dass es Leid und Gott kompatibel sind, was sagt das über Gottes Wesen aus? Diese beiden Probleme gilt es anzupacken. Lassen Sie mich aber, bevor wir damit beginnen, noch Folgendes sagen: Die Frage nach dem Leid ist immer zuerst eine zutiefst emotionale und erst an zweiter Stelle eine intellektuelle. Es macht immer einen gewaltigen Unterschied, ob man diese Frage aus persönlicher Betroffenheit oder verstandesmäßiger Neugierde stellt. Eine Frage, die nicht nur theoretischer Natur ist, kann man eben nicht rein theoretisch beantworten. Damit will ich gar nicht sagen, dass intellektuelle Rückfragen hierzu unerwünscht sind – im Gegenteil. Wie ich im weiteren Verlauf aber zeigen werde, sind möglichen Antwortvorschlägen klare Grenzen gesetzt. Nichtsdestotrotz will ich versuchen, Ihnen ein paar durchdachte Denkhilfen mit auf den Weg zu geben.

Leid als Preis der Freiheit

Kommen wir gleich zum ersten Einwand: „Wenn es Gott wirklich gibt, dürfte es doch kein Leid auf der Welt geben. Aber wir sehen: Es existiert Leid in der Welt, sogar sehr viel davon. Gott kann es demnach nicht geben!“ Ich kann diesen Einwand sehr gut nachvollziehen. Ich würde ihm sogar komplett zustimmen, wenn es keinen guten Grund dafür gäbe, dass Gott und Leid gleichzeitig existieren können. So einen gibt es aber.

Eine erste Erklärung, die ich als Christ habe, ist gleich eine der ersten Auskünfte in der Bibel: Gott hat uns Menschen als ein freies Gegenüber erschaffen und wünscht sich nichts Sehnlicheres, als mit jedem von uns eine persönliche und vertrauensvolle Beziehung zu haben. Unsere persönliche Entscheidungsfreiheit ist gerade hierfür wichtig. Warum? Weil eine echte Beziehung nur vor diesem Hintergrund entstehen kann. Eine „Zwangsgemeinschaft“ kommt nicht von Herzen; echtes Vertrauen entwickelt sich nun einmal nicht, wenn man es einfordert. Das ist ein Erfahrungswert. Sie können Vertrauen nicht wie einen Lichtschalter anknipsen. Weil Gott sich nichts mehr wünscht als eine vertrauensvolle Beziehung zu uns, hat er also keine andere Möglichkeit, als uns freies Spiel zu lassen.

„Moment!“, haken nun einige ein. „Gott ist also etwas nicht möglich? Aber Christen sagen doch immer, dass er allmächtig sei?“ Dieser Einwand hat seine Berechtigung, Sie erinnern sich aber vielleicht noch an diesen einen meiner Gedanken von vorhin: Es ist selbst Gott nicht möglich, etwas zu schaffen, das in sich selbst widersprüchlich ist (z.B. ein rundes Quadrat oder einen verheirateten Junggesellen). Wir dürfen Gott, um mit C.S. Lewis zu sprechen, zwar Wunder, nicht aber Widersinn zuschreiben.

Für unser Thema ist nun folgende Unvereinbarkeit wichtig: Es ist logisch unmöglich, jemanden dazu zu zwingen, etwas freiwillig zu tun. Sie können es gerne einmal versuchen, aber es liegt in der Natur der Sache, dass so ein Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Daraus folgt: Gott konnte keine Welt erschaffen, in der sich Menschen freiwillig immer gegen das Böse entscheiden. Weil er uns mit einem freien Willen geschaffen hat, kann er folglich nicht garantieren, dass wir uns nur für das Gute entscheiden. Gott schränkt seine Allmacht sozusagen freiwillig ein – zu unseren Gunsten und seinem Risiko.

Wir können also in der Tat Gott dafür verantwortlich machen, dass wir uns frei entscheiden dürfen. Aber wir sind selber dafür verantwortlich, was wir mit dieser Entscheidungsfreiheit machen. Es funktioniert daher nicht, wenn wir Gott die menschliche Schuld anlasten, das Kernkraftwerk „Fukushima I“ in einer Erdbeben- und Tsunamiregion zu errichten. Es war leider nur eine Frage der Zeit, bis dort etwas passieren musste.

Oder: Führen Sie sich einmal die verheerenden Kriege und Konflikte der (vergangenen) Weltgeschichte vor Augen. Wer hier Ursachenforschung betreibt, wird rasch auf das krankhafte menschliche Verlangen nach Macht, Einfluss und Geld stoßen. Die biblische Bitte, sich dieser Lust gerade nicht hinzugeben, wurde hier offenkundig in den Wind geschlagen. Und dürfen wir wirklich Gott dafür anklagen, dass auf einem Planeten, der problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger stirbt? Wir sind uns sicherlich einig, dass sich diese Liste – im Großen wie im Kleinen – unendlich fortführen ließe.

Seien wir also ehrlich: Es ist nicht fair, Gott die Schuld für etwas in die Schuhe zu schieben, dass wir Menschen verursacht haben. So unbequem die Beobachtung auch ist: Die allermeisten Leidsituationen, die wir gerne Gott anlasten, sind hausgemacht. Und auch, wenn wahrscheinlich nicht direkt Sie ein „übler Leidverursacher“ sind, so gibt es ja noch 7,3 Milliarden Menschen mehr auf der Welt, die in Frage kommen (von vergangenen Generationen ganz zu schweigen). Die alte Weisheit, dass der Mensch der gefährlichste Feind des Menschen ist, gilt also nach wie vor. C.S. Lewis schreibt daher vollkommen zu Recht:

Und so erklären sich vielleicht vier Fünftel menschlichen Leides. Nicht Gott, sondern die Menschen haben Folter, Peitsche, Gefängnis, Sklaverei, Kanonen, Bajonette und Bomben erfunden. Armut und Überarbeitung sind nicht durch die Kargheit der Natur bedingt, sondern durch menschliche Habgier und menschliche Dummheit.[4]

„Naja“, sagen manche. „Es mag zwar stimmen, dass nicht Gott schuld daran ist, wenn sich ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengt und viele Unschuldige mit sich in den Tod reißt. Aber ein allmächtiger Gott könnte solche Aktionen zumindest verhindern! Er sitzt also nach wie vor auf der Anklagebank – und sei es wegen unterlassener Hilfeleistung!“

Das ist natürlich eine berechtigte Kritik: Warum greift Gott nicht jedes Mal ein, wenn Menschen kurz davor stehen, etwas wirklich Schlechtes zu begehen? Das Problem ist nur: Würde der Gott, an den Christen glauben, so arbeiten, dann würde er nicht nur bei Selbstmordversuchen, Vergewaltigungen und Morden einschreiten, sondern auch bei vielen anderen Dingen, mit denen wir in der Regel ziemlich entspannt umgehen. Jesus benennt sie in einem Gespräch mit seinen Schülern:

Was aus dem Mund herauskommt, kommt aus dem Herzen, und diese Dinge sind es, die den Menschen unrein machen. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Aussagen, Verleumdungen. Das ist es, was den Menschen in Gottes Augen unrein macht. (Matthäus 15,18f.)

Man übersieht es zwar leicht, es war aber trotzdem erwartbar: Einem vollkommen heiligen und absolut gerechten Gott sind nicht nur moralische Schwerstdelikte ein Dorn im Auge, sondern auch vermeintliche Kleinigkeiten wie Lügen oder Lästern. Die christliche Botschaft besagt natürlich nicht, dass Vergewaltigung auf derselben Stufe wie Lästern steht – wohl aber, dass beide Handlungen aus Gottes Sicht verurteilungswürdig und schlecht sind.

Wer will, dass Gott alles Schlechte im Keim erstickt, verlangt also mehr, als ihm wahrscheinlich lieb ist. Man stelle sich nur einmal vor, wie es wäre, wenn Gott jedes Mal, wenn ich gerade lügen will, er mir meine Lüge im Halse stecken lässt. (Vielleicht erinnern Sie sich an Jim Carreys wunderbaren Film Der Dummschwätzer.) Oder wie wäre es, wenn mir Gott jedes Mal eine kurzzeitige Amnesie verpasst, wenn ich kurz davor bin, in Gedanken über das schräge Aussehen des neuen Kollegen herzuziehen?

Wenn Ihnen diese Beispiele zu weit weg erscheinen, habe ich folgenden Vorschlag: Gehen Sie kurz einmal Ihr eigenes Leben durch und halten Ausschau nach Gedanken und Taten, bei denen Gott wahrscheinlich hätte einschreiten müssen. Manchmal, nicht immer, verstecken sie sich gerade in den Situationen, in denen wir gerne sagen: „Ja aber, der hat doch…“

Ich weiß nur zu gut, dass so ein kleiner Selbsttest viel Selbstehrlichkeit erfordert; er kann aber nichtsdestotrotz ganz hilfreich sein. Sie werden dann wahrscheinlich – wie ich übrigens auch – feststellen, dass ein vollkommen heiliger und gerechter Gott nicht wenige der eigenen Aktionen und Gedanken hätte unterbinden müssen. Sie sehen: Eine Welt, in der Gott jedes Mal eingreift, wenn etwas geschieht, das in seinen Augen schlecht ist, wäre keine lebenswerte Welt. Da wir alle keine Engel sind, würden wir von ihm wahrscheinlich mehrmals am Tag in die Schranken verwiesen. Echte Entscheidungsfreiheit wäre in so einer Welt ein Fremdwort! Weil es Gott aus christlicher Perspektive mit unserer Willensfreiheit aber bierernst meint, entscheidet er sich, gerade nicht in die Situationen einzugreifen, die in seinen Augen schuldbeladen sind.

Ich gebe aber offen zu: Der Verweis auf die Entscheidungsfreiheit des Menschen erklärt zwar viele Leidsituationen, aber bei Weitem nicht alle. Bevor ich aber zu meiner zweiten Denkhilfe komme, will ich die Ernsthaftigkeit des gerade Gesagten noch einmal unterstreichen: Nur, weil ich ein spezifisches Übel nicht auf den Menschen zurückführen kann, heißt das noch lange nicht, dass er auch wirklich schuldlos ist. Oft erkennen wir gewisse Zusammenhänge schlicht und ergreifend deshalb nicht, weil wir in einem bestimmten Bereich über nicht genügend Einblick verfügen.

Nur ein Beispiel von vielen: Die Chemiker unter uns wissen, dass viele Alltagsprodukte, die synthetische Kohlenwasserstoffe beinhalten, als krebserregend gelten. Aber wer ist sich dessen von uns Nicht-Chemikern schon bewusst? (Eine kurze Recherche zum Stichwort „Krebserregende Stoffe im Alltag“ bringt vielleicht etwas Licht ins Dunkel.) Eine realistische Sicht auf die Vorgänge und Zustände der Welt sollte also immer die eigene Begrenztheit einkalkulieren.

Leid als Warnsignal

Meine zweite These ist schon etwas gewagter als die erste: Leid ist nicht nur der Preis, den wir für unsere Freiheit zahlen, sondern versteht sich schon über die Jahrhunderte hinweg auch als eine Art „Warnsignal“. Es lässt sich natürlich nicht leugnen, dass eine Welt ohne Schmerzen sehr sympathisch klingt: Eine Zahnwurzelbehandlung ohne Qual – ein Traum! Etwa 27 Millionen Menschen in Deutschland, die an einer oder an mehreren chronischen Erkrankungen leiden, hätten ein weitaus angenehmeres Leben. Sterbende würden ruhevoller aus dem Leben scheiden. Es scheint so, als sei eine leidfreie Welt eine glückliche Welt. Aber so einfach ist es leider nicht.

Der renommierte Professor der Anthropologie und Soziologie David Le Breton von der Université Marc Bloch in Strasbourg schreibt in seiner Anthropologie des Schmerzes (Schmerz. Eine Kulturgeschichte) wie verschiedene philosophische, medizinische, historisch-anthropologische, religiöse, soziologische und psychologische Interpretationen des Schmerzes zu verschiedenen Handlungsmustern führen. Bereits auf den ersten Seiten bemerkt er:

Ohne die Fähigkeit, Schmerz zu verspüren, ist die menschliche Existenz erschreckend verwundbar. Der Schmerz bringt dem Menschen gewaltsam bei, die seinen Körper bedrohenden Gefahren klar zu erkennen, dass der Mensch, wenn er nicht der Fähigkeit besitzt, Leid und Schmerz zu verspüren, in seiner menschlichen Existenz erschreckend verwundbar ist.[5]

Dass das nicht nur theoretisches Gerede ist, zeigen uns gerade diejenigen, die die Fähigkeit, Schmerz empfinden zu können, eingebüßt haben: Menschen wie der Brite Richard Mains, die an kongenitaler Analgesie (einer angeborenen Schmerzunempfindlichkeit) „leiden“, spüren z.B. nicht, ob ihre stark blutende Hand überhaupt weh tut. Mains merkt auch nicht, wenn er ein gebrochenes Bein hat, brühheißen Tee trinkt, seine Wange mit einem Bleistift durchbohrt oder weiter isst, obwohl er sich gerade einen Zahn abgebrochen hat.

Er spürt nicht, wenn er sich verbrennt oder verletzt. Als Kind grub er im Sand und blieb dabei für kurze Zeit unbeaufsichtigt: Seine Finger hatten sich derweil in ein blutiges Etwas verwandelt – er hatte einfach nicht gespürt, dass er viel zu hart gegraben hatte. Wenn sich je sein Blinddarm entzünden sollte, würde man das wahrscheinlich erst viel zu spät bemerken. Die Schmerzen, die sonst Erkrankungen rechtzeitig anzeigen, verspüren Menschen wie Mains nicht. Wir sehen, so krass es auch klingt, dass Leidlosigkeit alles andere als wünschenswert ist. Wir brauchen den Schmerz, er ist sozusagen – wie die Menschen in der Antike zu sagen pflegten – unser „bellender Wachhund der Gesundheit“.

Meine eigentliche These ist nun, dass sich dieser Gedanke auf Gott übertragen lässt. Mir ist an dieser Stelle natürlich bewusst, dass ich ganz sensiblen Boden betrete. Ich frage mich daher ernsthaft, wie ich es mit ausreichend Feingefühl sagen kann, was Christen glauben. Ich kann Sie wohl nur bitten, mir etwas Geduld zu schenken und nicht gleich meine ersten Formulierungsschritte als kaltherziges und grausiges Geschwätz abzutun. Also: Als Christ sage ich, dass Leiden im Kern freilich grausam, für Gott aber manchmal – und leider – ein notwendiges Übel ist, um seinen Menschen mit Blick auf das Wichtigste zu helfen. Wieder mal ist es C.S. Lewis, der dies wortgewaltig auf den Punkt bringt:

Kein Zweifel, der Schmerz als Megaphon Gottes ist ein furchtbares Instrument; er kann zu endgültiger reueloser Rebellion führen. Dennoch ist er für den todkranken Menschen die einzige Gelegenheit der Gesundung. … Jedermann hat schon bemerkt, wie schwer es ist, unsere Gedanken auf Gott zu richten, wenn es uns rundherum gut geht. »Wir haben alles, was wir brauchen«: ein schrecklicher Ausspruch, wenn »alles« Gott nicht einschließt. Wir empfinden Gott als Störung. Augustinus sagte irgendwo:  »Gott möchte uns etwas geben. Aber Er kann es nicht, weil wir unser Hände voll haben – Er weiß nicht, wohin damit.« …

Nun, Gott, der uns geschaffen hat, weiß, was wir sind und daß unser Glück in Ihm liegt. Wir aber wollen es in Ihm nicht suchen, solange Er uns noch irgendeine andere Zuflucht läßt, wo wir es eben noch halbwegs vernünftigerweise vielleicht erwarten dürfen. Solange unser Leben angenehm ist, wollen wir es Ihm nicht ausliefern. Was also kann Gott, und zwar in unserem eigenen Interesse, anderes tun, als uns »unser eigenes Leben« weniger angenehm zu machen und uns wegzunehmen, was fälschlich als Quelle des Glücks ausgibt. …

Ich bitte den Leser inständig, er möge, wenn auch nur für einen Augenblick, versuchen zu glauben. Gott, der jene lobenswerten Leute erschaffen hat, könnte wirklich recht haben, wenn Er der Meinung ist, ihr bescheidener Wohlstand und das Glück ihrer Kinder seien nicht genug, um sie glückselig zu machen.[6]

Es scheint mir, dass Lewis Recht hat. Wenn der Gott, an den Christen glauben, wirklich existiert, dann weiß er, dass es im Leben seiner Geschöpfe nichts Wichtigeres gibt, als ihn kennen zu lernen – und das nach wie vor in unserem eigenen Interesse. Christen glauben schließlich nicht an einen himmlischen Sadisten, der seine Menschen unglücklich macht, damit sie ja zu ihm kommen. Nein, er weiß haargenau, dass er genau das bewirken würde, wenn er uns manchmal nicht unzufrieden macht.

Jesus drückt das an einer Stelle wie folgt aus: „Was nützt es einem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er selbst dabei unheilbar Schaden nimmt?“ (Mk 8,36) Wenn der christliche Glaube stimmt, gibt es solche Menschen wirklich: Leute, die im Leben viel erreicht, was sie sich gewünscht haben, aber die die ganze Zeit am Wichtigsten vorbeilaufen: an der Möglichkeit, mit Gott, ihrem Schöpfer, in einer vertrauens- und liebevollen Beziehung zu sein. Menschen, zu denen Jesus mit Blick auf den Kern der christlichen Botschaft sinngemäß sagt:

Ich möchte, dass du Folgendes weißt: Ich habe diese Welt gemacht, jedes kleinste Detail. Hinter ihr steht mein liebender und planender Wille. Sie ist nicht einfach nur zufällig, sondern von mir gewollt. Auch du bist kein blinder Zufall! Ich habe dich zutiefst gewollt, du bist mein geliebtes Kind. Und meine Liebe musst du dir nicht verdienen, sie gilt dir – bedingungslos. Ich wünsche mir deshalb nichts Sehnlicheres, als mit dir in einer vertrauensvollen und liebevollen Beziehung zu sein.

Ich kenne dein Leben und sehe viel Gutes darin: Ich weiß um dein soziales Engagement, und kenne deine fürsorgliche Nächstenliebe. Aber ich weiß auch um deine dunklen Seiten: Ich sehe deine Lästereien und unzüchtigen Gedanken und kenne auch die Momente, in denen du andere neidisch beäugst. Ich weiß: Dinge wie diese sind dir kein Dorn im Auge, aber aus meiner Sicht stehen sie wie eine Schranke zwischen uns. Derzeit leben wir de facto getrennt. Warum? Weil ich vollkommen heilig und vollkommen gerecht bin – mit jemanden, der Ungerechtes auf sich geladen hat, kann ich keine Gemeinschaft haben.

Siehst du mein Dilemma? Meine absolute Gerechtigkeit verlangt nach Trennung. Meine absolute Liebe aber nach Gemeinschaft – nach Rettung. Ich will das Problem also lösen und habe dazu folgenden Weg gewählt: Ich selbst wurde Mensch und starb letztendlich für dich am Kreuz, um dir ein Angebot zur Wiederherstellung unserer Beziehung zu machen. Dort am Kreuz erfüllt sich sowohl meine vollkommene Gerechtigkeit als auch meine absolute Liebe:

Zum einen, weil dies der Ort ist, an dem über deine unheiligen und ungerechten Gedanken und Taten gerecht gerichtet wurde – der Lohn der Sünde ist nun einmal der Tod. Zum anderen ist es aber auch der Ort, an dem meine Liebe zu dir sichtbar wird: Denn nicht du wirst für deine Vergehen gerichtet; ich habe mich dazu entschlossen, deine Strafe selber zu zahlen. Damit wärest du gerettet.

Es gilt dir: Wenn du mein Angebot im Vertrauen auf mich ergreifst, entscheidest du dich, die Schranke, die uns trennt, zu entfernen. Dann entscheidest du dich für das, wofür ich dich erschaffen habe, für die Beziehung mit mir – jetzt und in Ewigkeit.

Gott weiß also mit 100%iger-Sicherheit, dass Gefahr im Verzug ist. Deshalb wurde er auch Mensch, um uns den Weg zu zeigen, damit wir unser eigentliches Ziel nicht verfehlen. Wenn es nun stimmt, was Christen sagen, dann stimmt auch, dass wir es beim christlichen Glauben mit einem Rettungsglauben zu tun haben. Einem Glauben, bei dem letztlich nur die gerettet sind, die sich zu Lebzeiten ehrlich und ernsthaft dazu entschieden haben, Gottes Angebot anzunehmen. Der Theologe Timothy Keller schreibt daher ganz richtig:

Das christliche Jenseits ist sozusagen das ‚gerechteste‘ Jenseits, das wir uns vorstellen können, denn Gott gibt jedem das, was er will. Wenn ich für immer mit Gott leben will, ist das der Himmel – und den werde ich kriegen. Wenn jemand sein eigenes Leben leben will, sein eigener Gott und Herr sein will, ist das die Hölle – und die wird er kriegen, und er wird sie wollen, immer; er wird es sich nicht plötzlich anders überlegen.[7]

Beim Stichwort „Hölle“ müssen wir freilich aufpassen – vor allem deshalb, weil die Christenheit über diesen schwierigen Begriff alles andere als einheitlich denkt. Im Gegenteil: Es gibt vielmehr, was die wenigsten aber zu wissen scheinen, sogar fünf unterschiedliche Hautpositionen, die von Vertretern der christlichen Szene angenommen werden: eine ewige bewusste körperliche und geistige Qual, eine ewige bewusste geistige Qual, eine ewige Trennung von Gott, eine bedingte Unsterblichkeit bis hin zum Annihilationismus (Auslöschung).[8] Wie sich die Hölle letztendlich wirklich gestaltet, werden wir eines Tages – aber dann hoffentlich nur aus dem Hörensagen – erfahren.

Wie auch immer es aber sein wird: Die Hölle ist natürlich nicht das Ziel, das sich Gott für uns wünscht. Die christliche Botschaft besagt, dass Gott vielmehr will, dass jeder von uns gerettet wird (vgl. 1Tim 2,4). Nicht, wie gehört, zu seinem, sondern zu unserem Besten. „Das Beste“ befindet sich aber manchmal, wie der französische Aufklärer Voltaire klug bemerkt, in schlechter Gesellschaft. „Das Gute ist der Feind des Besten“ (il meglio è nemico del bene), formulierte er und hat damit leider Recht. Das gute Leben, das viele von uns führen, macht uns häufig taub für das, was Gott uns sagen will. Nämlich eben nicht: „Es freut mich, dass du ein glückliches Leben führst. Und ich weiß, dass es noch viele Jahre so weitergehen wird. Genauso habe ich es mir für dich vorgestellt.“ – sondern:

Es freut mich, dass du ein glückliches Leben führst. Aber ich weiß, dass es immer weiter einen Keil zwischen uns treibt. Damit verpasst du aber nicht nur die Sinnhaftigkeit und Perspektive, die ich dir im Hier und Jetzt schenken will, sondern auch unsere Gemeinschaft am Tag nach der großen Scheidung.

So krass es auch klingt: Schmerz ist wirklich das Megaphon Gottes, das ihm manchmal als Instrument dient, um uns aus unserer tödlichen Taubheit wachzurütteln. Nicht, weil er auch nur irgendeinen Gefallen an unserem Leid hätte, sondern weil er weiß, dass viele den Abgrund, auf den sie zusteuern, ansonsten vor lauter Glück übersehen würden. Im Buch der Psalmen lesen wir daher: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90, 12)

Fassen wir zusammen: Mein erster Antwortvorschlag auf die Leidfrage ging in die Richtung, dass hier ein in vielfacher Weise hausgemachtes Problem vorliegt: Nicht Gott ist schuld, sondern in den allermeisten Fällen wir! Meine zweite Denkhilfe wollte den Blick dafür öffnen, dass wir des Leides bisweilen sogar bedürfen. Aber ich bin muss ganz ehrlich zugeben: Beides beantwortet die Leidfrage nur sehr unzureichend. Viele gute und berechtigte Rückfragen bleiben weiterhin offen.

Warum keine 100%-Erklärung?

Dieses Zugeständnis ist zwar ehrlich, aber auch ernüchternd. Als Christ kann ich zwar einige Fragen zum Leiden in der Welt beantworten, andere wiederrum nicht. Warum ist das so? Warum habe ich als Christ keine 100%-Erklärung? Ich will es Ihnen sagen: Weil mir in vielerlei Hinsicht Grenzen gesetzt sind. Ich weiß natürlich nicht, wie es Ihnen geht. Ich für meinen Teil muss aber ganz unaufgeregt zugeben, dass z.B. meine Intelligenz klaren Einschränkungen unterworfen ist (die sich am deutlichsten im Fachbereich Mathematik zeigen).

Aber nicht nur das: Ich bin, wie jeder andere übrigens auch, begrenzt in Raum, Zeit und Verständnis. Ich kann Ihnen weder sagen, was gerade im Haus meiner Nachbarn passiert, noch was mir meine Frau in einer Stunde, wenn sie von der Arbeit wiederkommt, erzählen wird. Von meiner Begrenztheit in puncto „Verständnis“ will ich erst gar nicht anfangen…

Ich denke, ich darf für uns alle sprechen, wenn ich sage, dass jeder diesen Begrenztheiten unterworfen ist. Diese Einschränkungen sind der Grund, warum ich oft nicht dazu in der Lage bin zu sagen, warum Gott ein spezifisches Übel zulässt. Aber, und nun kommt der springende Punkt: Ich kann aufgrund meiner Einschränkungen auch nicht ausschließen, dass Gott keine guten Gründe dafür hat, Leid zuzulassen. Nur weil mir – einem in Raum, Zeit, Intelligenz und Verständnis begrenzten Wesen – keine guten Gründe dafür einfallen, warum Gott ein konkretes Leid zulässt, heißt das ja noch lange nicht, dass er keine guten Gründe dafür haben kann. Es wäre reichlich überheblich gedacht, dass es nur das geben kann, was ich mir in meinem Geist ausmalen kann. Ich möchte das an einem Bild verdeutlichen:

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Hund. Ihr Herrchen, das die Welt natürlich viel umfassender begreift, liebt Sie über alles. Als Sie eines Tages durch den Wald rennen, hören Sie auf einmal ein lautes Schließgeräusch. Kurz danach verspüren Sie einen gewaltigen Schmerz: Sie sind mitten in eine Bärenfalle getreten, die verborgen im Unterholz lag! Die Krallen haben Ihr rechtes Hinterbein erfasst. Je mehr Sie versuchen, sich zu befreien, umso heftiger umschließen sie Ihr Bein und umso stärker strömt Blut heraus.

Der Blutverlust ist mittlerweile so stark, dass Sie bald verbluten werden. Angelockt durch Ihr lautes Heulen, steht plötzlich Ihr Herrchen vor Ihnen. Er will Sie befreien, aber die einzige Möglichkeit, einen Hund aus einer Bärenfalle zu retten (so habe ich es mir zumindest sagen lassen), ist, ihn zunächst tiefer in die Falle zu drücken, um somit die Spannung der Falle zu lösen. Genau das macht Ihr Herrchen jetzt mit Ihnen. Ihre Schmerzen steigen ins Unermessliche, so dass Sie sich tief verzweifelt fragen, warum er Ihnen so etwas Schreckliches nur antun kann. Aber am Ende des Tages, als Sie endlich gerettet sind, verstehen Sie es.[9]

Wie können wir sicher sein, dass so etwas Ähnliches nicht auch zwischen Gott und uns möglich ist? Genauso wenig wie der Hund die Beweggründe seines Herrchens versteht, können wir manche Motive Gottes nachvollziehen. Das heißt aber nicht, dass er im Endeffekt keine guten Absichten für das Zulassen von Leid haben kann. Um sein ultimatives Ziel zu erreichen – dass letztlich die maximale Anzahl an Menschen gerettet wird –, muss Gott auf dem Weg dorthin vielleicht viel Leid zulassen.

Es wäre sogar denkbar, dass er sich ganz bewusst für unsere leidgeplagte Erdversion entschieden hat, weil gerade auf ihr die maximale Anzahl an Menschen gerettet wird. Vielleicht würde das Verhältnis zwischen Erretteten und Nicht-Erretteten in einer Welt mit weniger Leid geringer ausfallen als in unserer. Das ist zumindest möglich. Wir können daher nicht wirklich darauf drängen, dass Gott keine guten Gründe für das Übel in der Welt hat.

Leid, wenn Gott nicht ist

Meiner Erfahrung nach gibt es nun immer Leute, die froh sind, Gott endlich zu den Akten legen zu können: „Die Leidfrage konnte nicht tadellos beantwortet werden: tschüss Gott!“ Aber bei aller Achtung: Was bringt es, Gott los zu sein, weil man ihn für das Leid verantwortlich macht? Die Antwort fällt nüchtern aus: Nichts! Eine gottfreie Weltsicht bietet ja keine bessere Alternative – im Gegenteil. Wir finden es freilich falsch, dass Menschen verhungern, unterjocht, diskriminiert und sogar getötet werden. Aber wenn Leute wie Richard Dawkins Recht haben, basiert das Leben nun einmal auf dem Prozess der Auslese und Evolution – und hier sind Dinge wie Tod, Zerstörung und Gewalt ganz normale und natürliche Vorgänge. Wenn Gott nicht ist, gibt es keinen tieferen Sinn für das Leid als diesen. Dann sind wir Gefangene einer Welt voller hoffnungslosen Leiden.

Auch die Frage nach dem Warum läuft dann logischerweise ins Leere: Wenn wir alle nur zufällige Produkte biologischer Prozesse sind, gibt es keinen Adressaten, dem wir sie stellen können. Manche von uns geben sich zwar der Illusion hin, „die Natur“ habe ein Bewusstsein und steuere die Prozesse in der Welt absichtlich und berechnend. Aber gerade Dawkins weiß es besser, er schreibt: „Die geist- und herzlose Natur wird weder wissen noch sich sorgen. Die DNA weiß nichts und sorgt sich um nichts. Die DNA ist einfach da. Und wir tanzen nach ihrer Pfeife.“[10] Wenn es stimmt, dass Gott nicht ist, dann hat die Leidfrage eine saloppe Antwort: So ist das Leben eben. Dawkins erneut:

Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstellungen übersteigt. … In einem Universum mit blinden physikalischen Kräften und genetischer Verdoppelung werden manche Menschen verletzt, andere haben Glück, und man wird darin weder Sinn und Verstand noch irgendeine Gerechtigkeit finden. Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut oder Böse steht, nichts außer blinder, erbarmungsloser Gleichgültigkeit.[11]

Ich kann Dawkins nicht in jedem Punkt zustimmen, wohl aber bei den unbequemen Konsequenzen, die ein atheistisches Weltbild beim Thema Leid mit sich bringt. Daraus macht auch niemand einen Hehl: Der große Skeptiker Bertrand Russell sagte selber, dass wir nur dann erfolgreich durchs Leben kommen, wenn wir erkennen, was für ein fürchterlicher Ort die Welt sei. Auch der französische Literaturnobelpreisträger Albert Camus betont, dass wir die Hoffnungslosigkeit des Lebens ehrlicherweise anerkennen sollten. Wenn der Atheismus stimmt, haben beide vollkommen Recht! Unser Umgang mit dem Leid in der Welt wird also nicht einfacher, wenn wir Gott los sind. Im Grunde bleibt uns dann nichts anderes übrig, als die Trost- und Hoffnungslosigkeit unserer leidgeplagten Welt entweder zu akzeptieren oder auszublenden.

Was folgt aus diesen Überlegungen? Nun, im Gegensatz zur christlichen Weltsicht, in der nur einige Leidsituationen erklärt werden können, bietet uns das atheistische Weltbild für wirklich jede dieser Situationen eine Erklärung an. Das muss ich selbst als Christ unaufgeregt anerkennen. Wenn wir das Ganze aber ein Stückchen weiterdenken, merken wir: Selbst ein Weltbild, dass jedes Übel zu erklären vermag, kann uns in einer konkreten Leidsituation nicht wirklich zufriedenstellen. Wenn jemand eine Krebsdiagnose erhält und nur noch zwei Wochen zu leben hat, hilft es ihm nicht zu wissen, welche biologischen Vorgänge zu seinem Tod führen werden. Ich halte das für eine wichtige Erkenntnis. Sie zeigt uns, dass die eigentliche Antwort auf die Leidfrage nicht in Erklärungen, sondern im Grunde ganz woanders liegt.

Leben mit Perspektive

Es dürfte klar sein, dass es keine Hilfe ist, wenn man jemanden erklärt, warum er an Multiple Sklerose erkrankt ist. Scharfsinnige Begründungen, und mögen sie auch noch so richtig sein, sind nicht das, was Leidtragende brauchen. Sie brauchen vor allem eines: Nähe und Hoffnung. Timothy Keller liegt daher vollkommen richtig, wenn er jede Form von Leiderklärungen „als kalte und am Leben vorbeigehende Gedankenakrobatik“[12] beschreibt, wenn es doch Anteilnahme und Mut sind, die der Leidende jetzt am meisten braucht.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will damit nicht sagen, dass Leute, die nicht an Gott glauben, keine guten Tröster sein können – selbstverständlich können sie das! Aber unsere Fähigkeit, Kranken und Trauerenden Trost spenden zu können, reicht eben immer nur soweit, wie es unser eigenes Weltbild zulässt. Gleiches gilt natürlich auch für das Sich trösten lassen. Gerade in Leid-Momenten bewahrheitet sich der Satz, dass Christen zwar nicht besser, doch aber besser dran sind: „Trauert nicht wie die Menschen, die keine Hoffnung haben“ (1Thess 4,13), rät Paulus einer Gemeinde in Thessalonich. Ein Hinweis, der, recht verstanden, eine tragfähige Zuversicht bietet.

Paulus erinnert uns an etwas, was selbst Christen immer wieder vergessen: Es gibt eine gut begründete Hoffnung für unser persönliches Leben – auch und gerade in Leidsituationen. In diesem Leben und über unseren Tod hinaus. Mit Matthias Clausen gesprochen: Der Gott, an den Christen glauben, ist kein ferner und distanzierter Gott, dem wir gleichgültig sind. Christen glauben, dass er in Jesus Mensch geworden ist und in ihm in seiner Liebe zu uns bis in den Tod gegangen, am Kreuz gestorben ist. Wir glauben schließlich an einen gekreuzigten und leidenden Gott, der mitten in unserem Leiden gegenwärtig ist.

An einen Gott, der es mit seinem Angebot einer vertrauensvollen Beziehung zu ihm wirklich ernst meint, uns gerade so in unserem Schmerz nahe und seine Perspektive schenken will. Gott kann auch unsere Klage und unser Unverständnis aushalten; denn im Grunde leidet er mit jedem Leidenden weitaus mehr mit, als wir das könnten. Wir müssen Gott also nicht etwa darüber „informieren“, was Leiden bedeutet. Die christliche Botschaft bietet uns also keine billige Vertröstung, sondern einen realen und handfesten Trost an. Einen Eindruck, wie die christliche Hoffnung in der oft unbarmherzigen Realität aufleuchten kann, gibt uns Stephan Volke, Direktor der Hilfsorganisation Compassion Deutschland:

In den letzten Jahren habe ich viele Begegnungen mit Armen gehabt, aber diese hier hat mir vor einigen Wochen einen Stich ins Herz gegeben und mir die Tränen in die Augen getrieben: Am Rande des Muskathlons in Uganda habe ich die Zwillinge Legion und Rogers und ihre Eltern Rydia und Fred kennengelernt. Ihre Geschichte ist unglaublich, noch nie sind mir ärmere Menschen begegnet.

Ihr Haus liegt in den Bergen in einem Dschungelgebiet. Die Zwillinge haben typische Hungerbäuche, verständlich, wenn man die Geschichte der Familie kennt. Rydia erzählte, dass sie zweimal in der Woche etwas Nahrhaftes zu essen haben. Zweimal! Auf meine erstaunte Frage, was sie denn sonst essen, zeigte sie auf die Bäume und sagte: „Wir essen die Blätter von den Bäumen, um unsere Mägen zu beschäftigen.“

Wasser holt sie aus einem dreckigen Wasserloch, das 500 Höhenmeter entfernt unten im Tal liegt. Meistens ist es aber versiegt, so dass sie sechs Kilometer zum nächsten Wasserloch laufen muss. Fred ist eigentlich Bauarbeiter und kann Häuser bauen, aber wird für maximal 5 Tage im Monat als Arbeiter beschäftigt. Sein Lohn: 1 US-Dollar pro Tag für 10 Stunden Arbeit. Diese Familie hat also maximal 5 Dollar pro Monat zur Verfügung, um zu überleben. Die Grenze für extreme Armut wird von der UN auf 1,90 USD/pro Tag festgelegt. Diese Familie liegt weit darunter.

Und dann stellte ich die Frage, deren Beantwortung mich bis heute beschäftigt: „Wenn Jesus jetzt in Person hier vor euch stehen würde und ihr hättet eine einzige Frage, was würdet ihr fragen?“ Kein Klagen, kein Murren, sondern Rydia überlegt kurz und sagt dann: „Ich würde ihn fragen, ob er mit der Art und Weise, wie ich ihm nachfolge, zufrieden ist.“ Ich traue meinen Ohren nicht und frage noch einmal nach. Aber die zweite Antwort ist die gleiche. Dann frage ich Fred. Seine Antwort ist nicht weniger bewegend: „Wenn Jesus hier vor mir stünde, hätte ich keine Frage an ihn. Ich würde ihn an die Hände fassen, und dann würden wir tanzen!“[13]

Was ist es, was Rydia und Fred angesichts ihrer unfassbaren Lage glücklich sein lässt? Ich sage es Ihnen: Es ist das sehende Vertrauen und die begründete Hoffnung auf Christus, den Auferstandenen. Er ist ihre Perspektive! Es bleibt dabei: Christen haben nach wie vor keine 100%-Antwort auf die Leidfrage, sie können aber eine 100%-Lösung anbieten: Christen leben auf Gottes neuen Himmel und neue Erde zu, in der Gott alle Tränen abwischen wird, in der es keinen Tod, kein Leid, kein Geschrei und keinen Schmerz mehr geben wird; denn was vorher war, ist vergangen (vgl. Offenbarung 21). Diese Erwartung hilft, das Leid beim Namen zu nennen, es gerade nicht zu beschönigen und dennoch hoffnungsvoll zu leben.

Das alles gilt natürlich nur unter einer Voraussetzung: Es muss stimmen, was Christen sagen. Der christliche Glaube ist nicht deshalb wahr, weil er sich schön anfühlt oder Hoffnung selbst über den Tod hinaus verspricht. Das sagen andere schließlich auch. Mein Rat: Konfrontieren Sie Christen Ihres Vertrauens mit Ihrer Situation oder Rückfragen. Oder wenn Sie besonders mutig sind: Konfrontieren Sie Gott persönlich mit Ihren (An-)Klagen. Wer hierfür eine kleine Starthilfe braucht: Die Klagelieder und Psalmen im Alten Testament, dem ersten Teil der Bibel, sind voll von teils scharf formulierten Anklageschriften gegen ihn. Aber nicht nur das: Sie zeigen auch, dass Jesus unser Rufen ernst nimmt. Dass unser Vertrauen und unsere Hoffnung auf ihn gerechtfertigt sind – auch und gerade im Leid.

[1] H. Nakamura (1970): Die Grundlehren des Buddhismus. In: H. Dumoulin (Hrsg.): Buddhismus in der Gegenwart. S. 23.

[2] A. Sharma (1990): A Hindu Perspective on the Philosophy of Religion. S. 51.

[3] C. S. Lewis (2009): Über die Trauer. S. 27f.

[4] C.S. Lewis (2007): Über den Schmerz. S. 89.

[5] D. le Breton (2003): Schmerz. Eine Kulturgeschichte. S. 11.

[6] C.S. Lewis (2007): Über den Schmerz. S. 96f.

[7] T. Keller (2011): Warum Gott? Sechs Gesprächsimpulse zum Buch. S. 79.

[8] D. Hilborn (2004): Die Wirklichkeit der Hölle. S. 97ff.

[9] In Anlehnung an einen Vortrag von Peter J. Kreeft.

[10] R. Dawkins (2007): Der Gotteswahn. S. 499f.

[11] R. Dawkins (1998): Und es entsprang ein Fluss in Eden. S. 150f.

[12] T. Keller (2012): Warum Gott? Vernünftiger Glaube oder Irrlicht der Menschheit? S. 53.

[13] S. Volke (2016): Compassion Deutschland Newsletter Nr. 3/16.