Welch primitive Mythologie, dass ein menschgewordenes Gotteswesen durch sein Blut die Sünden der Menschen sühnt! Eine blutige Erlösung am Kreuz ist eine heidnische Menschenopferreligion nach religiösem Steinzeitmuster. Dieses Geschehen ist in der Tat durch und durch mythologisch. Wem es schwerfällt, dies zu erkennen, stelle sich einfach einen Indiostamm vor, der einen Menschen rituell opfert, um mit seinem Blut die Götter zu besänftigen. Was uns dort abschreckt und primitiv vorkommt, wird uns hier seit zweitausend Jahren von den Kirchen als göttliches Heilsgeschehen serviert.

Danke für dieses Statement, das ich gut nachvollziehen kann. Sie dürfen nur eines nicht übersehen: Wenn Sie der Meinung sind, dass das Geschehen der Evangelien „durch und durch mythologisch“ ist, widersprechen Sie zumindest dem aktuellen Stand geschichtswissenschaftlicher Forschung. Denn dort wird heutzutage die Ansicht, dass es sich bei den Evangelien Mythen, Legenden oder allgemein historisch unzuverlässige Quellen handelt, kaum noch vertreten. Vielmehr wird die historische Integrität der Evangelien weitgehend anerkannt.

Jens Schröter, Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments und neutestamentliche Apokryphen an der HU Berlin, schreibt in diesem Zusammenhang:

Historische Jesusforschung kann den christlichen Glauben niemals begründen oder gar seine Richtigkeit beweisen. Sie kann jedoch zeigen, dass dieser Glaube auf dem Wirken und Geschick einer Person gründet, die sich, wenn auch nicht in jedem Detail, so doch in wichtigen Facetten auch heute noch nachzeichnen lassen. Damit leistet sie für die Verantwortung des christlichen Glaubens in der modernen Welt einen substantiellen Beitrag. (Schröter 2010: 34)

Selbst ein Gerd Lüdemann, vielleicht der schärfste Kritiker der christlichen Botschaft dieser Zeit, geht von der Historizität der Lebensbeschreibungen Jesu aus. Gerd Theißen, Professor Emeritus für Neutestamentliche Theologie, schreibt in seinem Standardwerk „Der historische Jesus – Ein Lehrbuch” (4. Aufl. 2011):

Das Matthäusevangelium ist durch frühe Papyri (ab ca. 200) und Zitate bei Kirchenvätern (seit der Mitte des 2. Jh.) hervorragend bezeugt. Die Integrität des auf Griechisch verfassten Textes steht nicht in Frage.

Das Johannesevangelium ist durch mehrere frühe Papyri von der 1. Hälfte des 2. Jh. an sehr gut bezeugt. Abgesehen von der eindeutig sekundären Perikope 7,53-8,11 ist der Text nach dem handschriftlichen Befund nie anders als in der vorliegenden Fassung kursiert.

Bei den Evangelien nach Markus und Lukas sieht es nicht anders aus. Und Theißens Analyse ist keinesfalls die einzige ihrer Art. Holger Strutwolf, Universitätsprofessor und Direktor des Instituts für neutestamentliche Textforschung in Münster, gibt zu verstehen:

Als Textkritiker ist zu sagen, dass die handschriftliche Überlieferung des neutestamentlichen Textes sehr treu und im Wesentlichen zuverlässig erfolgt ist, so dass man mit großer Zuversicht sagen kann, dass von textkritischer Seite keine Bedenken bestehen, dass der Text willentlich und grundsätzlich von späteren Tradenten verfälscht worden sein könnte.

Wir sehen: Der einzige Ort, an dem der Inhalt der Evangelien noch als Mythologie angesehen wird, ist der Bereich des Sensationsjournalismus oder der populären Literatur. Wer die neutestamentliche Texte aber aufmerksman liest, erkennt schnell, dass die Autoren aufrichtig und ernsthaft an die Wahrheit dessen glaubten, was sie auch verkündeten. Deren Meinung muss man ja nicht teilen, aber zumindest anerkennen, dass sie fest davon überzeugt waren, was sie da aufschrieben.

Wenn Theißen (2011) die insgesamt fünf Phasen der Leben-Jesu-Forschung auflistet, wird rasch klar, dass die Zeiten, in denen man die Evangelien als mythenhafte Legenden abstempelte, längst vorbei sind – im 18./19. Jahrhundert gingen Leute wie Lessing, Herder und Strauß noch davon aus, dass die Berichte über Jesus im Laufe der Jahrhunderte ihrer Überlieferung bis zur Unkenntlichkeit verfälscht, aufgebauscht und mythologisiert wurden. Diese Annahmen sind mit dem heutigen Stand historischer Forschung, der so genannten “Third-Quest”-Phase, allerdings nicht mehr vereinbar.