Wenn man Gott eine einzige Frage stellen könnte, welche wäre das? Wer mir diese Frage stellt, also: „Wenn du, Stephan, Gott eine einzige Frage stellen könntest, welche würde das sein?“  würde ich ihn wohl fragen: „Darf ich noch mehr Fragen stellen?“ Damit hätte ich schon mal etwas Zeit gewonnen und könnte dann nur hoffen, dass Gott nicht so antwortet, wie einst der Nobelpreisträger Robert Koch mal auf eine Frage geantwortet hat, nämlich:

„Diese Frage ist so gut, dass ich sie nicht mit meiner Antwort verderben möchte.“

Aber werden wir – gerade bei diesem Thema – etwas ernsthafter. Für viele wäre sicherlich gerade die Frage nach dem Leid die Frage, die sie Gott als erstes stellen würden. Für viele ist das sogar die Frage, also: „Wie kann Gott nur das Leid zulassen?“ Ich persönlich finde das eine allzu berechtigte Frage! Und sie wird ja dann besonders brisant, wenn sie nicht aus intellektuellen Gründen gestellt wird. Sondern, ganz im Gegenteil, wenn sie in Moment des Fragens eine sehr persönliche und sehr existentielle Komponente hat.

Also wenn die Frage eben nicht ist: „Wieso ist das so, dass so Manches geschieht, das wir nicht mögen?“, sondern: „Warum ist so, dass ein guter Freund von mir, von einer bestimmten Krankheit von innen her zerfressen wird? Oder warum werden so viele unschuldige Menschen von einer Militärgewalt getötet?“ Und die große Frage hier hinter lautet ja:

„Wenn Gott doch angeblich so viel Macht hat, warum tut er nichts dagegen?“

Wenn wir uns dem Thema „Leid“ nähern, ist es stets wichtig zu bedenken, dass wir der Leidfrage nicht gerecht werden, wenn wir sie rein als theoretisches Problem ansehen. Sie ist ein zutiefst persönliches Problem, möglicherweise macht es das auch so schwer, weitgehend „neutral“ über sie zu sprechen. Denn die Leidfrage ist in allererster Linie eine Frage des Herzens und erst in zweiter eine Frage des Verstandes.

Es geht dabei also zunächst darum, zuzuhören und soweit es geht mitzufühlen. Floskeln wie „Die Zeit heilt alle Wunden“ oder „Im Endeffekt wird es dich stärker machen“, sind (wie ich finde) mehr als nur unangebracht. Auch denjenigen, die uns sagen möchten, dass Leiden Folge unserer eigenen Fehler sind, stehe ich skeptisch gegenüber. Das nur einmal vorweg.

Aber die Frage, warum Gott Leid zulässt, bleibt ja. Ich frage mich aber manchmal, ob wir wirklich Gott für alles Leid auf der Welt verantwortlich machen dürfen? Warum frage ich mich das? Nun, Christen glauben ja, dass Gott den Menschen geschaffen hat, um mit ihm in einer vertrauensvollen Beziehung leben zu können. Und so eine Beziehung kann ja nur dann „echt“ sein, wenn das Gegenüber (also wir) die absolut freie Wahl haben, uns für oder gegen sie zu entscheiden. Alles andere wäre nicht echt. Wenn wir keine freie Wahl hätten, uns für oder gegen Gott zu entscheiden, dann könnte man so eine Beziehung zwischen Gott und Mensch gerechtfertigterweise als eine Art „Zwangsehe“ beschreiben.

Aus diesem Grund bin ich übrigens der Meinung, das niemals einer der so genannten „Gottesbeweise“ einer kritischen Überprüfung standhalten wird. Die menschliche Entscheidungsfreiheit ist also ein hohes Gut. Und wie gesagt: Ich bin davon überzeugt, dass ein Großteil des Leids in der Welt auf das Konto falscher menschlicher Entscheidungen geht. Francis Collins schreibt:

Es ist die Menschheit, nicht Gott, die Messer, Pfeile, Gewehre, Bomben und alle Art von Folterinstrumenten erfunden hat. Die Tragödie eines jungen Kindes, das von enem betrunkenen Fahrer getötet wird, der sterbende Unschuldige auf dem Schlachtfeld, das junge Mädchen, getötet durch einen Querschläger in einem Stadtviertel, in dem Verbrechen und Gewalt an der Tagesordnung sind, kann kaum Gott angelastet werden.

Das erklärt selbstverständlich noch nicht das natürliche, nicht von Menschen verursachte Leid wie Erdbeben oder Tsunamis; ich denke aber, dass sehr viel Leid im Anschluss an solche Katastrophen gelindert werden könnte, wenn wir Menschen hilfsbereiter wären. Ab und an frage ich mich sogar, warum Menschen sich einst dazu entschieden haben, überhaupt in Risikogebieten dauerhaft sesshaft zu werden?

Weiterhin denke ich: Viele Menschen müssten auch gar nicht erst sterben, wenn wiederum andere Menschen nicht so viel Rassenhass, Unterdrückung, Gier usw. in die Welt tragen würden. Der Mensch selbst ist also in erster Linie schuldig. Und wer das Welthungerproblem und die dadurch verursachten Krankheiten auf Gott abwälzen und den Menschen schuldlos davonkommen lassen will, sollte sich dringend durch die einschlägige Fachliteratur korrigieren lassen.

Manche Menschen fragen aber auch ganz anders – zum Beispiel so:

Wenn Gott allmächtig ist, hätte er doch eine Welt ohne Leid erschaffen können?

Aber dass Gott allmächtig ist, heißt nicht, dass er eine Welt erschaffen kann, in der Menschen freiwillig sich nur zum Guten entscheiden. Es ist logisch unmöglich, jemanden dazu zu bringen, etwas freiwillig zu tun. Weil Gott uns mit einem freien Willen geschaffen hat, kann er nicht garantieren, dass wir uns stets zum Guten entscheiden. Andere Leuten sagen wiederum:

Wenn Gott allliebend ist, hätte er eine Welt ohne Leiden erschaffen.

Aber ist es wirklich undenkbar, dass ein guter Gott Ungutes zulässt? Wir alle kennen ja Beispiele, in denen wir Leid aufgrund eines höheren Ziels zulassen, dass das Leid wieder rechtfertigt. Wenn Gott z.B. einen wirklich guten Grund dafür hätte, ein bestimmtes Übel geschehen zu lassen, besteht hier die Notwendigkeit, das unser dieser Grund auch einleuchten muss? Angesichts der Tatsache, dass Gott allwissend ist, wir aber erkenntnismäßig so einigen Grenzen unterworfen sind, sollte es uns dann nicht verwundern, dass wir seine Gründe nicht wahrnehmen?

Es stellt sich mir allerdings eine noch grundlegendere Frage: Warum gehen wir eigentlich davon aus, dass Leben auf der Erde leidlos sein sollte? Denn die Frage impliziert ja, dass leidvolle Situationen eigentlich gar nicht zum Leben dazugehören (sollten). Das wäre natürlich auch aus meiner Sicht sehr reizvoll, aber wer hat uns das je versprochen?

„Na er,“ erwidern nun einige, „Gott hat es versprochen. Vielleicht nicht direkt, aber zumindest könnte man von einem Gott, der die Liebe selbst ist, ja erwarten, dass er sich um seine Geschöpfe kümmert und darauf achtet, dass ihnen nichts Schlimmes passiert.“

So sehr ich diesen Einwand auch verstehe, wäre es aber gelogen zu sagen, dass Gott uns zugesagt hat, dass das Leben leidfrei sein wird. Wir hätten das sicherlich gerne, mir geht es da nicht anders. Aber zumindest ich habe niemals ein Schreiben gesehen, indem mir (weder von Gott noch sonst wem anders) ein schmerzfreies Leben zugesichert wurde. Christen sagen ja: Der Hautzweck des Lebens ist nicht Glück, sondern die Erkenntnis von Gott.

C.S. Lewis, der berühmte irische Schriftsteller und Cambridge-Professor der Literatur, drückt das wie folgt aus:

„Das Problem, menschliches Leiden mit der Existenz eines liebenden Gottes in Einklang zu bringen, ist nur solange unlösbar, als wir dem Wort «Liebe» eine triviale Bedeutung verbinden und die Welt so ansehen, als sei der Mensch ihr Mittelpunkt. Der Mensch ist nicht der Mittelpunkt. Gott existiert nicht um des Menschen willen.“

Das liebliche Bild, dass wir in Gott eine Art Großvater haben, der froh ist, seine lieben Kinderchen verwöhnen zu können und sonst gar nicht wüsste, wozu er sonst eigentlich da ist – das Bild vom netten alten Mann, der teilnahmslos auf einer Wolke thronend hin und wieder sein Füllhorn ausschüttet, das stimmt einfach nicht. Und nur, weil ich mir keinen Grund vorstellen kann, warum Gott das Leiden und das Böse zulässt, heißt das ja noch lange nicht, dass auch Gott keinen Grund dafür haben kann. Der Philosoph Alvin Plantinga schreibt:

„Angenommen, Gott hat einen Grund dafür, ein spezifisches Übel zuzulassen. … Hätten wir überhaupt eine Chance, plausible Erklärungen für diesen Grund zu finden? … Angesichts der Tatsache, dass er allwissend ist, wir dagegen erkenntnismäßig erheblichen Begrenzungen unterworfen sind, sollte es uns dann nicht überraschen, dass wir seine Gründe nicht erkennen?“

Hinter diesem Gedanken steckt ja sehr viel Wahrheit und deckt eine unausgesprochene Prämisse auf: „Böses, das mir sinnlos vorkommt, ist auch tatsächlich sinnlos.“ Aber Plantinga liegt ja eigentlich gar nicht so falsch, wenn er sagt: Wenn Gott etwas zulässt, für das ich selbst keinen Grund sehe, heißt das ja noch lange nicht, dass es einen solchen Grund nicht gibt. Denken Sie wirklich, dass wenn Sie und ich keine zufriedenstellenden Antworten auf die Leidfrage finden können, es dann auch keine solche Antworten geben kann?

Dieser Gedanken liefe – bei allem Respekt –  die Gefahr, sich als blinder Glaube zu entpuppen. Aber viele gehen ja wirklich davon aus, dass wenn es gute Gründe für die Existenz des Bösen gibt, diese auf jeden Fall unserem Verstand zugänglich sein müssten – aber: Muss das wirklich so sein?

Und die Existenz des Böses als Argument gegen Gott scheitert ja nicht nur der Logik, sondern auch an der Erfahrung. Eine wahre Begebenheit hierzu: Ich habe mal von einem jungen Mann gelesen, der einen Großteil seines Augenlichts verloren hatte, als er bei einem Drogendeal eine Kugel ins Gesicht bekam. Er berichtete, dass er früher ein brutaler Egoist war, der seine Probleme mit anderen Menschen und der Polizei stets den anderen in die Schuhe schob. Der Verlust seines Augenlichts war nun verständlicherweise ein sehr schwerer Schlag für ihn – und ein Augenöffner. Er sagte:

Als meine physischen Augen sich schlossen, öffneten meine inneren sich, und ich sah endlich, wie ich die Menschen behandelt hatte. Ich fing an, mich zu ändern, und heute habe ich zum ersten Mal im Leben Freude – echte Freunde. Ich habe einen hohen Preis gezahlt, aber er war es wert. Jetzt hat mein Leben endlich einen Sinn.“

Ein weiteres Beispiel ist die Lebensgeschichte eines Mannes, der vor vielen Jahren bei einem Autounfall seine Frau und sein Kind verlor, er selbst überlebte das Unglück. Zweifelsfrei gehören solche Erlebnisse zu den schlimmsten Dinge, die einem Menschen passieren können – folgerichtig stellte dieser Unfall seinen Glauben vor eine harte Probe. (Wer sich einen Audiomitschnitt seines Leid-Vortrags anhören möchte, kann dies hier tun.)

Es wäre sehr falsch zu denken, dass Menschen wie diese Männer dankbar über ihren Verlust sind. Aber sie würden die innere Reife, Kraft und Charakterstärke, die sie dadurch neu gewonnen haben, um nichts in der Welt eintauschen wollen. Viele von uns können rückwirkend zumindest für einen Teil ihrer persönlichen Tragödien sagen, gute Gründe für das, was ihnen passiert ist, erkennen. Warum sollte es also nicht möglich sein, dass es aus der unendlich höheren Perspektive Gottes für alles Leid gute Gründe geben könnte?

Natürlich müssen alle aufrichtigen Christen ganz offen zugeben, dass sie einfach nicht wissen, warum Gott ein bestimmtes Leid zulässt. Aber wie gesagt stellt sich erstens die Frage: Falls es gute Gründe für leidvolle Dinge gibt, müssen diese Gründe unserem Verstand zugänglich sein – muss das wirklich so sein? Und zweitens kommt das vermeintlich „Gott gewirkte Leid“  meiner Meinung nach bei näherer Betrachtung weitaus weniger vor, als man auf den ersten Blick denkt.

Christen dürfen sich aber bei einer Sache sehr sicher sein:

Gott ist unser Leid ganz und gar nicht egal ist. Sie wissen vielmehr, dass er am Kreuz ein Leiden auf sich nahm, von dem wir uns überhaupt keine Vorstellung machen können. Gott, der am Kreuz erlebt, selbst von Gott verlassen zu sein. Das Kreuz Jesu ist für Christen der Beweis dafür, dass Gott unserem Leiden nicht gleichgültig gegenübersteht und dass er gute Gründe hat, es nicht einfach sofort abzuschaffen. Timothy Keller schreibt:

 „Das Leid der Welt ist sicherlich der stärkste Einwand gegen den christlichen Glauben, aber stellt andere Sichtweisen ja sogar noch vor viele größere Probleme. Jemand, der nicht an Gott glaubt, hat gar keine Basis für seinen Protest gegen das Böse und das Leiden, andere Religionen haben hingegen keinen Gott, der leidet….

Allein der christliche Glaube hat einen Gott, der unser Leid und Elend so ernst nimmt, dass er bereit ist, es an sich selbst heranzulassen. Gott selber ist in die Realität hineingekommen und hat dort Ungerechtigkeit, Gewalt und Ablehnung erlitten. …

An diesem Punkt [am Kreuz] kommen der „theoretische“ und der „persönliche“ Aspekt zusammen. Was zeigt uns, dass Gott gute Gründe dafür hat, das Leiden und das Böse noch eine Zeit lang gewähren zu lassen? Das Kreuz. Auch Gott muss das Böse hassen, sonst wäre er nicht ans Kreuz gegangen. Wenn er das Böse aber so sehr hasst, muss er einen guten Grund dafür haben, die Geschichte der Menschheit noch weitergehen zu lassen.“

Böses & Leid – sogar ein Argument für Gott

Wie Keller ganz richtig schreibt, ist das Leid der Welt gewiss der stärkste Einwand gegen den christlichen Glauben, stellt aber jede andere Sichtweise vor noch viel größere Probleme. Was ist damit gemeint? Hierzu eine kurze Geschichte: Als junger Mann verabschiedete sich C.S. Lewis wegen des ganzen Leidens auf Welt vom Glauben – das Leben war einfach zu grausam, als ein allmächtiger und alliebender Gott existieren könnte. Bis Lewis entdeckte, dass das Leid für jemanden, der nicht an Gott glaubt, ein noch weitaus größeres Problem darstellt, er schreibt:

„Mein Argument gegen die Existenz Gottes lautete, die Welt sei grausam und ungerecht. Woher aber hatte ich meine Vorstellung von gerecht und ungerecht? … Womit verglich ich diese Welt, wenn ich sie ungerecht nannte? … Natürlich hätte ich sagen können, meine Vorstellung von Gerechtigkeit sei lediglich meine eigene, private Idee, aber damit hätte ich sie praktisch aufgegeben.

Dann wäre auch mein Argument gegen Gott in sich zusammengefallen, denn es beruhte ja darauf, dass die Welt tatsächlich ungerecht ist, und nicht nur darauf, dass sie nicht meinen Vorstellungen entspricht. … Damit aber erweist sich der Atheismus als zu einfach.“

Sehen Sie, was Lewis hier erkannt hat? Wir finden es natürlich absolut falsch und in gewisser Weise auch unfair, dass Menschen Leid ertragen müssen. Dass sie ermordet, ausgeschlossen oder unterdrückt werden und sogar verhungern. Aber wenn Gott nicht existiert, dann basiert unser Leben auf dem Prozess der natürlichen Auslese und Evolution – und hier sind solche Dinge wie Tod, Zerstörung, Fressen-und-gefressen-Werden vollkommen natürliche Dinge. All das sind ganz natürliche Prozesse, die nun einmal geschehen.

Mit welchem Recht nennt also jemand, der nicht an Gott glaubt, dann die Welt aber ungerecht und grausam? Die Antwort lautet: Wer nicht daran glaubt, dass Gott existiert, hat einfach keine vernünftige Grundlage, von der aus er sich über die Ungerechtigkeit in der Welt aufregen könne. Keine Frage: Sicherlich regt sich jeder über Leid & Ungerechtigkeit auf, egal ob gläubig oder nicht. Aber auf welcher Basis tut das der, der nicht davon ausgeht, dass Gott existiert?

Aber bitte verstehen Sie mich nun nicht falsch: Ich will hier gar nicht sagen, dass man nur durch den Glauben an Gott ein moralisches Leben führen kann. Und ich will auch nicht sagen, dass man ohne den Glauben an Gott keine Moralvorstellungen erkennen kann. Und letztlich will ich auch nicht sagen, dass wir  nur dann ein moralisch-ethisches System entwerfen können, wenn wir an Gott glauben.

Alle diese Sache möchte ich nicht sagen. Meine Frage dreht sich nicht um den Glauben an Gott, sondern um die Existenz Gottes: Auf welcher Grundlage sagt jemand, für den Gott nicht existiert, dass bestimmte Dinge nicht nur für ihn selbst, sondern vielmehr allgemein schlecht sind?

Was meine ich damit nun? Wenn Sie sagen, dass es so etwas wie das „Böse“ gibt, dann müssen Sie annehmen, dass es auch so etwas wie das „Gute“ gibt. Wenn Sie annehmen, dass es so etwas wie das „Gute“ gibt, dann müssen Sie sagen, dass es eine Art moralischen Maßstab gibt, nach dem sie das „Gute“ vom „Schlechten“ unterscheiden können. Denken Sie z.B., dass alle moralischen Einstellungen zu Themen wie Völkermord, Intoleranz etc. gleichwertig und gleichrangig zu behandeln sind?

Wenn “ja”, käme ihr Resultat – bei allem Respekt – einer menschlichen Bankrotterklärung gleich. Denn dann würde man sagen, dass die Einstellungen “Völkermord ist richtig” und “Völkermord ist falsch” oder “Intoleranz ist richtig” und “Intoleranz ist falsch” beide gleichwertig sind. Wenn Sie aber denken: “Nein, es gibt bei Fragen wie diesen ein Richtig und Falsch”, dann bringt genau dieser Gedanke die Existenz objektiver Moral zum Vorschein.

Sobald wir sagen, dass eine moralische Einstellung besser sein kann als eine andere, legen wir an beide einen Maßstab an. Wir sagen nämlich, die eine kommt der idealen Norm mehr, die andere weniger nahe. Wir vergleichen beide mit einer höchsten sittlichen Idee und geben damit zu, dass so etwas wie eine letzte moralische „Richtigkeit“ gibt – unabhängig von dem, was Menschen denken – und dass die Einstellungen mancher Menschen dieser letzten Richtigkeit näher kommen als die von anderen. Wenn unsere moralischen Ansichten richtig sind und zB die der Nazis nicht, dann muss es etwas geben (die letzte moralische „Richtigkeit“ nämlich), woran beide Einstellungen gemessen werden können.

Wenn Sie aber sagen, dass so etwas wie objektive Moral, die also unabhängig von dem, was Menschen denken, existiert, dann kann es eben nicht der Mensch selbst sein, der dieses objektive Moralgesetz hervorgebracht hat. Wer oder was war es aber dann? Die Natur? Wie gesagt: Wenn es Gott nicht gibt, dann basiert unser Leben auf dem Prozess der natürlichen Auslese und Evolution – und hier sind solche Dinge wie Tod, Zerstörung, Fressen-und-gefressen-Werden völlig natürliche Dinge.

Die Natur ist hier moralisch absolut neutral, sie kennt keine objektive Moral. Wenn beispielsweise ein Löwe ein Zebra tötet, dann tötet er es – er ermordet es aber nicht. Und niemand würde sagen, dass es falsch ist, wenn ein Löwe ein Zebra tötet. Nein, es ist eine völlig natürliche Sache. Alvin Platinga schreibt:

„Könnte es Böses und Gemeines überhaupt geben, wenn es keinen Gott gäbe und wir nur das Produkt der Evolution wären? Ich sehe nicht, wie das möglich sein soll. Böses kann es nur geben, wenn wir irgendwie wissen, wie rationale Wesen leben sollten, leben müssen…

Eine säkulare Weltsicht hat keinen Raum für echte moralische Pflichten welcher Art auch immer… und damit keine Möglichkeit, zu sagen, dass es so etwas wie das wirkliche, entsetzliche Böse gibt. Wenn man also überzeugt ist, dass das fürchterlich Böse eine Realität ist, hat man damit ein starkes Argument für die Realität Gottes.“

Fassen wir zusammen: Ungerechtigkeit, Leid, Schicksalsschläge – alle sind ein Problem für uns Menschen. Für diejenigen von uns, die an Gott glauben, aber genauso für die, die nicht an Gott glauben. Ich kann den Gedanken zwar ganz gut nachvollziehen, dass es die Leidfrage leichter zu machen scheint, wenn man Gott ausblendet – aber das tut es in Wirklichkeit ja gar nicht.

Im Gegenteil: Die von uns, die nicht an Gott glauben, haben hingegen – wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst sind – sogar gar keine vernünftige Grundlage, von der aus sie sich über das Übel und Leid in der Welt beklagen können.

Und nun?

Demjenigen, der in Leid steckt, geht diese Wahrheit natürlich nicht so einfach durch die Nieren. Man könne doch nicht mit dem Sinn von Leiden den Gott entschuldigen, der über so viel Leid einfach hinweg sieht. Ich finde dieses Argument sehr verständlich, würde aber doch eine Sache einwerfen wollen: Gott überblickt nicht nur das Leiden, er sieht in ihm nicht nur einen Sinn,  sondern er kam auch auf diese Erde, um sich mit Leid zu identifizieren.

Das ist einer der größten Pluspunkte des Christentums gegenüber anderen Religionen: In Jesus hat Gott die tiefsten Tiefen des Leidens erfahren – am Kreuz. Dieser Glaube kann uns helfen, dem Leid nicht mit Verbitterung, sondern mit Hoffnung und Mut zu begegnen. Albert Camus, einer der bedeutendsten französischen Autoren des 20. Jhds. verstand dies, als er schrieb:

„Auch der Gott-Mensch Christus leidet – geduldig. Man kann das Böse und den Tod nicht mehr völlig ihm in die Schuhe schieben, leidet und stirbt er doch selber. Die Nacht auf Golgatha ist deswegen, und nur deswegen, so wichtig in der Geschichte der Menschheit, weil in ihrem Dunkel die Gottheit  ihr angestammtes Vorrecht ablegte und bis ans Ende, ja bis zur völligen Verzweiflung die Todesqual durchlebte.

So erklärt sich das „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ und der furchtbare Zweifel des Christus in seinem Todeskampf.“

Diese Wahrheit dürfen wir bei allem Leid nie aus den Augen verlieren: In Jesus weiß Gott aus eigenem Erleben, was es heißt verzweifelt, verlassen, vergessen, einsam und arm zu sein, um einen Menschen zu trauern oder Folter und Gefängnis zu erleiden. Bei der nächsten Katastrophe sollten wir uns das in Erinnerung rufen, bevor wir wieder in die Zeitung schreiben: „Wo warst du, Gott?“

Elie Wiesel, jüdischer Schriftsteller, Überlebender des Holocausts und Träger des Friedensnobelpreis für seine Vorbildfunktion im Kampf gegen Gewalt, Unterdrückung und Rassismus beschreibt folgende Begebenheit aus seiner Gefangenschaft im Stammlager des Konzentrationslagers Ausschwitz:

Ich habe in der Folge mehreren Erhängungen beigewohnt. Nie habe ich einen der Verurteilten weinen sehen, denn ihre ausgemergelten Körper hatten seit langem den bitteren Trost der Tränen vergessen. Mit Ausnahme einer Vollstreckung. Der Oberkapo des 52. Kabelkommandos war ein Holländer, ein über zwei Meter hoher Riese. Siebenhundert Häftlinge arbeiteten unter seinem Befehl und alle liebten ihn wie einen Bruder.

Nie hatte einer eine Ohrfeige von seiner Hand bekommen, nie einen Fluch aus seinem Munde gehört. Er hatte im Dienst einen jungen Burschen bei sich, einen Pipel, wie man ihn nannte, ein Kind mit feingezeichneten schönen Gesichtszügen, das nicht in unser Lager passte.

Eines Tages flog die Elektrozentrale von Buna in die Luft. An Ort und Stelle gerufen schloss die Gestapo auf Sabotage. Man fand eine Fährte, die in den Block des holländischen Oberkapos führte. Dort entdeckte man nach einer Durchsuchung eine bedeutende Menge Waffen. Der Oberkapo wurde auf der Stelle festgenommen. Wochenlang wurde er gefoltert. Umsonst. Er gab keinen Namen preis, wurde nach Auschwitz überführt und war fortan verschollen. Aber sein Pipel blieb im Lager, im Kerker. Gleichfalls gefoltert, blieb auch er stumm.

Die SS verurteilte ihn daher zusammen mit zwei anderen Häftlingen, bei denen Waffen gefunden worden waren, zum Tode. Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Antreten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen.

Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz. Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle. Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schling eingeführt. „Es lebe die Freiheit“ riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg.

„Wo ist Gott, wo ist er?“ fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter. „Mützen ab!“ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. „Mützen auf!“ Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr… Aber der dritte Strick hing nicht leblos: der leichte Knabe lebte noch … Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorbeischritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen.

Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: „Wo ist Gott?‘ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: „Wo er ist? Dort – dort hängt er, am Galgen…“

Ich denke aber, dass wir sogar noch mehr brauchen als nur das Wissen, dass Gott in unserem Leid bei uns ist. Wir brauchen eine Hoffnung, dass jegliches Leiden hier auf der Erde nicht umsonst ist. Aber bitte verstehen Sie mich nun nicht falsch: Was wir nicht brauchen, ist eine billige Vertröstung! Was wir brauchen, ist ein begründeter Trost, eine begründete Hoffnung.

Und ich bin davon überzeugt, dass der christliche Glaube gut begründet ist. Der christliche Glaube bietet dem Leidenden ja auch nicht nur die Lehre vom Kreuz Christi, sondern auch dessen Auferstehung. Christen glauben ja, dass nach diesem irdischen Leben nicht ein abstraktes und körperloses Wolkenparadies kommt, sondern ein neuer Himmel und eine neue Erde. Timothy Keller schreibt:

Die biblische Zukunftshoffnung ist die Auferstehung – eine Zukunft jenseits dieses Lebens, die nicht ein bloßes Trostpflaster für das Leben ist, das wir nie hatten, sondern eine Wiederherstellung des Lebens, das wir immer wollten.

Wir sehen: Die Auferstehung Jesu ist ein zentrales Element im christlichen Glauben – ich denke sogar, dass wir größtenteils ihre Auswirkungen bei Weitem stark unterschätzen. Warum man aber so ein unglaubliches Ereignis wie die Auferstehung ernst nehmen sollte, dazu gibt es in Beitrag „Fakt oder Fiktion – Die Auferstehung Jesu“ weitere Gedanken zu.

Die christliche Lehre von der Menschwerdung Gottes in Jesus und dem Kreuz Christi kann jedem Leidenden einen tiefen Trost bringen – keine billige Vertröstung wie gesagt, sondern eine begründete Aussicht darauf, dass die gewaltige Hoffnung, die hinter der Auferstehung steckt, stimmt. Sie verspricht uns, dass wir das Leben bekommen werden, nach dem wir uns am meisten gesehnt haben, und dass alles noch unendlich schöner und herrlicher sein wird, als wenn es nie Beharrlichkeit, Erlösung, Tapferkeit und Erlösung gebraucht hätte. Der russische Schriftsteller Dostojewksi beschrieb es wie folgt:

„Ich bin wie ein kleines Kind überzeugt davon, dass die Leiden vernarben und zum Ausgleich gelangen werden, dass das ganze beleidigende Komische der menschlichen Widersprüche entschwinden wird wie ein jämmerliches Traumgebilde, wie die garstige Erfindung eines Schwachen und Kleinen, wie ein Atom des menschlichen euklidischen Geistes;

ich bin überzeugt davon, dass endlich, am Ausklang der Welt, im Augenblick ewiger Harmonie, etwas derartig Wertvolles sich erreignen und offenbaren wird, dass es genug ist für alle Herzen, zur Beschwichtigung aller Unwillen, zur Sühne aller von Menschen begangenen Übeltaten und alles von ihnen vergossenen Blutes, dass es mit einem Wort ausreicht dafür, dass es nicht nur möglich sein wird, alles, was mit den Menschen sich zutrug, zu verzeihen, nein, sogar auch zu rechtfertigen.“

Und C.S. Lewis bringt es letztendlich auf den Punkt:

„Sie, die Sterblichen, sagen von irgendeinem zeitlichen Leiden, dass keine künftige Seligkeit das aufwiegen kann, und sie wissen nicht, dass der Himmel, wenn er einmal gewonnen ist, rückwirken und selbst diese jetzige Qual in Herrlichkeit verwandeln wird.“

Das ist das, wozu Christen eine begründete Hoffnung haben: Dass das Leid nicht nur aufhören, sondern so radikal besiegt wird, dass das, was geschah, dazu dienen muss, unser zukünftiges Leben und unsere Freude noch unendlich größer zu machen.

Und wenn Sie noch Fragen oder Anmerkungen haben, können Sie gerne einen Kommentar und/oder eine E-Mail schreiben.