Religion ist Produkt von uralter Unwissenheit gepaart mit Angst und der Unfähigkeit das Umfeld zu erklären, gelindert durch die Thesen einer charismatischen, autoritären Persönlichkeit, welche – auch nur menschlich – durch Machthunger diese Thesen weiter verbreitet und entwickelt. Wo wir wieder beim Propheten wären.

Danke für diesen Einwand, den ich sogar unterstützen würde: Religion ist in der Tat nichts Gutes. Mir ist zumindest noch kein Fall bekannt, in dem Religiosität zu etwas Gutem geführt hat. Aber bei all der Abneigung gegen Religion bzw. Religiosität, die wir sogar teilen, ist die – weitaus wichtigere – Wahrheitsfrage ja immer noch nicht beantwortet: Existiert Gott? Oder existiert er nicht? Ist Gott lebendig? Oder nicht? Man könnte jetzt natürlich ganz soziologisch vorgehen und sagen:

Alles Unsinn! Glaubende malen das Bild eines allmächtigen Gottes an den Himmel, weil sie sich einen solchen Gott wünschen – und weil sie mit diesem Leben nicht zurechtkommen.

Das Problem dabei ist nur: Hier wird einfach vorausgesetzt, dass Gott nicht existiert. Dieser Einwand (von Ludwig Feuerbach) erklärt also, warum Menschen an Gott glauben, wenn es ihn nicht gibt. Er beantwortet aber in keinster Weise die Frage, ob es ihn denn gibt. Das ist mein Grund, warum ich diesen Einwand nicht sehr überzeugend finde.

Dass ich ein Bedürfnis nach etwas habe, kann auch genauso gut ein Hinweis darauf sein, dass es dieses Etwas auch gibt. Ich habe Hunger – und es gibt Nahrung. Ich habe das Bedürfnis nach menschlicher Nähe – und es gibt andere Menschen. Meine Bedürfnisse geben mir eigentlich Aufschluss darüber, worauf ich angelegt bin. Die Sehnsucht nach Gott ist natürlich kein Beweis für Gott – aber sie ist genauso wenig ein Gegenargument, zumal das Gottesbild des christlichen Glaubens im Kern den Vorstellungen menschlicher Religiosität direkt widerspricht: Einen Gott, der sich selbst erniedrigt und für seine Geschöpfe blutig am Kreuz stirbt, um sie zu retten – einen solchen Gott denkt man sich kaum freiwillig aus.

Man könnte auch (wieder mal ganz soziologisch) einwenden, dass Weltanschauungen eh nur sozial konstruiert sind. Aber dann wäre ja auch z.B. die atheistische Sichtweise sozial konstruiert. Dann ist der Atheist eben nur deshalb Atheist, weil seine Eltern oder sein soziales Umfeld atheistisch sind. Das macht seinen Standpunkt dann aber auch nicht „wahrer“ als andere.

Nein, die beiden Themen „Religion“ und „Gott“ sind zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe. Religionen spiegeln schlichtweg das Wesen des Menschen wider: seine Sehnsucht nach “Mehr”, auch nach Gott; seine Erwartung, Gott müsse sich aber so ähnlich verhalten, wie er es unter Menschen gewohnt ist u.v.m. Religionen sind zunächst also weder gut noch schlecht – nur bringt uns keine von ihnen Gott näher. Religionen sind also – ganz böse formuliert – nichts weiter als ein (hässlicher) menschlicher Reflex. Ich würde sogar so weit gehen und sagen:

Selbst Gott hat ein Problem mit Religion.

Wir müssen also darauf Acht gehen, „Religion“ und „Gott“ nicht in einen Topf zu schmeißen. Wer das tut, missversteht einen der grundlegendsten Aspekte des christlichen Glaubens. Denn anders als oft angenommen, geht es beim christlichen Glauben ja gerade nicht darum, dass wir Menschen zwanghaft zahllose Gebote befolgen müssen, um einer göttlichen Bestrafung zu entgehen. Stattdessen handelt der christliche Glaube von einem Gott, der uns Menschen so unendlich liebt, dass er uns das ewige Leben schenken möchte, obwohl wir es nicht verdienen. Es geht also nicht um die religiöse Verbrämung eines integren Lebens (so wünschenswert solch ein Leben auch ist), sondern um die Beziehung mit Gott und seiner lebendigen Wirklichkeit.

Religionen sind zumeist sehr gut  darin, den Menschen durch „das finale Ziel“ (den Himmel, das Nirwana, die Erlösung, die Erkenntnis etc.) in eine gewisse Abhängigkeit zu treiben. Sie sagen uns ja:

Du willst doch zum Ziel kommen, oder? Das schaffst Du auch: Und wir werden Dir sagen, wie es geht! Folgendes gilt es zu tun, Folgendes zu lassen. Wenn Du Dich anstrengst, dann schaffst Du es (vielleicht).

Diese  Aussage  verleiht  den  Religionen natürlich  ein  nicht unerhebliches  Machtpotential. Wer  es schafft, den göttlichen Maßstäben gerecht zu werden, die sie uns verkünden, wird letztlich das große Ziel  erreichen.  Religionen  haben  es  immer  sehr  gut  hinbekommen,  uns  diesen  Erlösungsweg aufzuzeigen.  Er  kann  manchmal schwerer,  manchmal leichter  sein;  aber das „religiöse  Prinzip“ ist stets dasselbe:  „Tue und  unterlasse dieses und jenes, dann findest  Du  Gott.“  Nach  diesem Prinzip funktionieren im Grunde alle Religionen – außer eine: Die christlichen Botschaft besagt nämlich, und das können Sie natürlich gerne nachzuprüfen, in ihrem Kern das genaue Gegenteil:

Du musst nichts leisten, um zu Gott zu kommen. Du kannst Dir den Himmel auch nicht durch gutes Tun verdienen – Gottes Anerkennung ist vielmehr ein freies Geschenk. Gott wurde in Jesus Mensch und hat am Kreuz bereits alles getan, was nötig ist, um zu ihm zu kommen. Mit dem Kreuz hat er bereits „Ja“ zu uns gesagt;  alles, was Du zu tun brauchst, ist, „Ja“ zu Gottes Angebot zu sagen.

Zum zweiten Teil der Frage: Trifft es für den christlichen Glauben zu, dass dieser sich durch die Thesen und den Machthunger einer charismatischen und autoritären Persönlichkeit weiter verbreitet und entwickelt hat? Das kann man zwar behaupten, ich wüsste bei allem Respekt aber nicht, wie man das begründen möchte. Ehrlich gesagt scheint mir das genaue Gegenteil der Fall. In Jesus begegnet uns ein Mensch, der stets behauptete, Gott selbst zu sein. Das war der zentrale Kern seiner Botschaft – prüfen Sie das gerne nach; es genügt bereits, wenn Sie dazu nur eine der vier Lebensbeschreibungen Jesu einmal sorgfältig von Anfang bis Ende lesen.

Und am Ende jeder der vier Evangelien wird von der Kreuzigung Jesu berichtet. Und eines müssen wir uns klarmachen: Die Hinrichtung Jesu führte zu einer tiefen Ernüchterung bei all denen, die Hoffnung in ihn gesetzt hatten. Jesu Glaubwürdigkeit und sein Anspruch starben mit ihm am Kreuz. Wer konnte noch ernsthaft glauben, dass es stimmte, was dieser Mann von sich behauptete? Er soll Gott sein? Er, der von seinen Widersachern nicht nur gefangen genommen, sondern auch gefoltert und letztendlich sogar hingerichtet wurde. Das war lachhaft. Das Kreuz entlarvte Jesus also als einen Lügner, genauso wie viele andere vermeintliche Messiasse vor ihm. Und nicht nur das: In der Thora heißt es: „Von Gott verflucht ist der, der ans Holz gehängt wurde.“ In jüdischen Augen machte die Kreuzigung Jesu also eines ganz klar: Er war nicht nur ein Lügner, sondern sogar jemand, der von Gott persönlich verflucht war. Die Kreuzigung wurde von den Juden folglich als ein Verdammungsurteil Gottes über das Wirken und Verkündigung Jesu verstanden. Er, der ja vorgab, Gott selbst zu sein, wurde durch seinen Kreuzestod entlarvt.

Wir sehen: In Jesus begegnet uns niemand, der letztendlich als charismatisch oder autoritär bezeichnet werden kann. Eher als verspottet, ausgepeitscht und elendig gestorben. Mehr kann ein vermeintlicher Messias kaum scheitern. Der Messias, von dem Juden erwarten, dass er das jüdische Volk  aus dem Exil versammelt und nach Israel zurückbringt, der den jüdischen Tempel in Jerusalem wieder aufbaut und den Weltfrieden bringt – das konnte wahrlich nicht der Mann sein, der dort röchelnd und blutend am Kreuz hing und am Ende armselig starb. Niemand – selbst die Jünger nicht – setzte noch einen Cent auf Jesus, der blutig am Kreuz hing und starb.

Doch wenige Tage nach der Kreuzigung kam es nicht nur bei den Jüngern, sondern auch bei Hunderten ihrer jüdischen Zeitgenossen zu einem bemerkenswerten Sinneswandel. Die aufgescheuchten und verängstigten Jünger, die dabei waren, alles wegzuwerfen und aus Jerusalem zu fliehen, Jesus verrieten und verleugneten, verwandelten sich plötzlich über Nacht in eine selbstbewusste und überzeugte Missionsgesellschaft. Und nicht nur sie, sondern auch Hunderte von jüdischen Zeitgenossen, die zuvor nichts mit Jesus zu tun hatten, verkündeten plötzlich lauthals, was durch die Kreuzigung, das heilige Thora-Urteil über Jesus und die jüdische Grundüberzeugung, dass die Auferstehung eines Einzelnen unmöglich ist, als unmöglich galt:

„Christus ist von den Toten auferstanden!“

Diese Botschaft verbreitete sich – und durch sie der christliche Glaube. Ohne sie wäre der christliche Glaube auch eine Farce, darauf sagen sogar die neutestamentlichen Schriften selbst:

Wenn Christus nicht auferstanden ist, ist euer Glaube eine Illusion. (1. Kor. 15, 17)

Natürlich könnte man sich jetzt in die gängige Anti-Christen-Literatur kaufen oder auf den einschlägigen Atheistenseiten im Internet rumsurfen, um dann sagen zu können, dass das Christentum doch in Wahrheit mit Knüppel und Schwer verbreitet wurde oder dergleichen. Das kann man zwar machen, aber wer das tut, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, den aktuellen Stand der historischen Forschung komplett ignoriert zu haben, vgl. z.B. N.T. Wright (2013) Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott oder auch Moellers (2011) Geschichte des Christentums in Grundzügen.

Eine kurze Zusammenfassung: Ich finde es überhaupt nicht problematisch und schlimm, gegen Religion zu sein – gerade weil ich das als überzeugter Christ auch bin. Aber wie gesagt: Wer gute Gründe hat, gegen Religion und Religiosität zu sein, und da gibt es ja jede Menge, hat damit immer noch nicht die eigentlich wichtige Frage beantwortet: Gibt es Gott oder gibt es Gott nicht?

Gleichzeitig finde ich es schwer begründbar, dass sich der christliche Glaube durch den Machthunger eines charismatischen und autoritären Jesus ausgebreitet haben soll. Denn der starb wie gesagt elendig und blutig als vermeintlicher Lügner und Gottverfluchter am Kreuz. Seine Lehre, sein Charisma und seine Autorität können also mitnichten der Grund dafür gewesen sein, weshalb sich das Christentum zur größten Weltreligion entwickelte.